Am 5. Oktober 1962 wurde „Love Me Do“, die erste Single der Beatles veröffentlicht und wurde ein mittlerer Erfolg. Am 14. Oktober 1962 machen US-Aufklärungsflugzeuge über Kuba Fotos, auf denen unerhörte Dinge zu erkennen waren. Am 28. Oktober 1962 endet die Kuba-Krise, die die Welt hart an den Rand eines thermo-nuklearen Krieges führte. Am 11. Januar 1963 veröffentlichten die Beatles ihre zweite, nun weitaus erfolgreichere Single „Please Please Me“. Eine kulturhistorische Wasserscheide hat sich Sally Potter für ihren neuen Film ausgesucht, der von einer Jugend im Zeichen der Bombe erzählt. Hier der „Kalte Krieg“, Jazz und Existentialismus, dort die Beatles, die Popmusik, der Mai 68, der Feminismus und der Situationismus.
Der Film beginnt mit einer großen Geste: der Explosion einer Atombombe. Am 8. August 1945. Ein Kameraschwenk über ein Feld der Zerstörung wird datiert: Hiroshima 1945. Während der 2. Weltkrieg in Asien mit einem Paukenschlag endet, der als Menetekel die folgenden Jahrzehnte prägen wird, werden in London zwei Mädchen geboren, von Müttern, die einander bei der Geburt ganz nahe und solidarisch sind: Ginger und Rosa. Die Mütter bleiben befreundet, die Töchter wachsen als beste Freundinnen heran, Rosas Vater verschwindet. Und dann schreiben wir bereits das Jahr 1962, die Kuba-Krise zieht herauf – und die Impressionen einer Jugend in England sind unterlegt mit Popmusik, erst Jazz á la Django Reinhardt, dann „Take the A-Train“ und dann auch schon „Telstar“ von The Tornados. Selbst britischer Instrumental-Rock´n´Roll hält es 1962 mit der Devise „Watch the Skies!“ Diese Eröffnungssequenz skizziert mit meisterhafter Eleganz ein Szenario, dessen Übersichtlichkeit und Pointiertheit es mit einem Brechtschen Lehrstück aufnehmen kann.
Für Sally Potter, die mit „Ginger & Rosa“ ein weiteres Mal ihre Themen „Linke Politik“, Feminismus, Liebe und Musik anmischt, ist diese Klarheit des Erzählens allerdings überraschend. Es liegt nahe, diese Klarheit, die den Film formal wie inhaltlich prägt, als Referenz an die eigene Erinnerung zu nehmen. Und auch gleich das Pathos der Pubertät, dass das gesamte Weltgeschehen auf die eigene Biografie projiziert, mit zu inszenieren. Allerdings bricht Potter dieses Pathos nicht ironisch, sondern solidarisiert sich mit ihren Figuren, die ihren Platz in der Welt suchen.
Die britischen Arthaus-Ikone Potter, Jahrgang 1949, reüssierte 1983 mit „Gold Diggers“, einem unerhört einflussreichen Klassiker des feministischen Kinos, verfilmte betont originell Virginia Woolfs „Orlando“ und begeisterte viel zu wenige Zuschauer mit dem poetischen East meets West-Liebesfilm „Yes“, dessen Figuren in Pentameter-Versen miteinander kommunizierten. Kein Wunder also, dass Sally Potter mit ihren ästhetisch wie politisch hoch reflektierten Filmen hierzulande stets ein Geheimtipp geblieben ist. Das könnte sich jetzt allerdings ändern. Dass der sorgfältig gemachte Film trotz aller Zugeständnisse an die Zugänglichkeit ein emotionales wie intellektuelles Vergnügen ersten Ranges ist, spricht zudem Bände über den Zustand des Gegenwartskinos. „Ginger & Rosa“ erzählt modellhaft von einer Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Mädchen, deren Kindheit und Jugend im Zeichen der atomaren Vernichtung, Existentialismus und Jazz steht. Ginger, rothaarig, ist ein Feuerkopf, Dichterin und Denkerin, will instinktiv gegen die Bombe protestieren, während Rosa, ohnehin mehr an Jungen denn an Politik interessiert, sich auch gut vorstellen könnte zu beten. Die Mädchen wachsen auf in einem Milieu britischer Radikaler und Freidenker; Gingers Vater war als Pazifist im Gefängnis, publiziert anarchistischer Kampfschriften und hat sich dem radikalen Bruch mit bürgerlichen Konventionen verschrieben.
So radikal ist dieser Bruch, dass er eines Tages eine Liason mit Rosa eingeht, was Ginger wiederum in tiefste Depression treibt. Der emotionale Höhepunkt ereignet sich vor dem Hintergrund eines Friedensmarsches zum Atomwaffenlager von Aldermaston auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise. Der Vater bereut schließlich. Ohne viele Umschweife kommentiert Potter seine männliche Larmoyanz als fiese Bigotterie eines Mannes, der sexuell Kapital aus seiner Opferrolle als Linker schlägt. Das Private ist das Politische! Und „Ginger und Rosa“ erzählt die Geschichte einer Desillusionierung. Potter erzählt diese Geschichte retrospektiv mit allerlei Leerstellen und Zuspitzungen, aber weitgehend unter Verzicht auf illusionierendes Sozial- oder Lokalkolorit. Unvergesslich der Moment, in dem die beiden zutiefst verwirrten Mädchen zur Aufmunterung eine Single von Dave Brubeck und Paul Desmond auflegen: „Take Five“ als Seelenretter und (noch) nicht als Matinee-Soundtrack. Ein paar Jahre später wird der Soundtrack zur Zeit härter werden, wird die Beatlemania den Existentialismus ablösen. Aber in der Welt von Ginger und Rosa, im Oktober 1962, ist noch kein Platz für „Love Me Do“. Man mag bedauern, dass es „Ginger & Rosa“ etwas an Komplexität und Raffinesse mangelt, aber man den Film auch als Essay über die unscharfe und etwas verklärende Erinnerung der „68er“ verstehen. Als britisches Pendant etwa zu Andres Veiels „Wer wenn nicht wir“, als Kritik an linker Larmoyanz aus der Perspektive einer Generation, die eben keine Nazi-Väter, sondern WWII-Sieger zum Abarbeiten hatte.