Im Winter 2007 ersteht der junge Makler und Historiker John Maloof bei einer Versteigerung für 380 Dollar eine Kiste voller Negative aus den Beständen einer Lagerräumung. Beeindruckt vom künstlerischen Wert der Fotografien, die zum großen Teil alltägliche Begebenheiten, Straßenszenen und Portraits wiedergeben, forscht er nach der unbekannten Urheberin des noch unentdeckten, brachliegenden Werkes. In ihrem beindruckenden, viele Fragen zum Verhältnis von Leben und Kunst aufwerfenden Dokumentarfilm „Finding Vivian Maier“ erzählen Maloof und sein Koregisseur Siskel von dieser äußert spannenden Spurensuche, die zugleich zu einem Künstlerportrait wird. In ihrem Versuch, den Menschen hinter dem Werk sichtbar zu machen, gewinnt auch Vivian Maiers Kunst immer mehr Kontur. Daneben stellt der Film die beunruhigende Frage, warum Maiers Arbeit, die von Experten neben die Werke von Robert Frank, Helen Levitt und Diane Arbus gestellt wird, so lange unentdeckt blieb und vielleicht nur durch einen Zufall vor dem Verschwinden bewahrt wurde.
Der Film „Finding Vivian Maier“ bildet den von Neugier und Empathie getriebenen Rechercheprozess im Austausch mit Zeitzeugen und Kunstkennern ab und verhilft der unbekannten Fotografin zugleich zur Veröffentlichung. Hätte die Portraitierte, die vermutlich zwischen dem Wunsch nach Anerkennung und der Scheu vor dem Rampenlicht hin und her gerissen war, das gewollt, fragt sich John Maloof, um Verständnis bemüht, immer wieder. Denn offensichtlich war Vivian Maier eine verschlossene Einzelgängerin und rätselhafte Frau, die sich hinter verschiedenen Masken versteckte und zeitlebens als Kindermädchen wechselnder Haushalte ihr bescheidenes Auskommen hatte. Sie sei paradox, unerschrocken, exzentrisch und geheimnisvoll gewesen, sagen ihre ehemaligen Schützlinge und Arbeitgeber über sie. Vor allem war Vivian Maier, die nie ohne ihre Rolleiflex aus dem Haus ging, aber eine exzessive Sammlerin, deren streng abgeschirmte Wohnung mit Zeitungsstapeln, Negativen, alten Kleidern und Erinnerungsstücken vollgestopft war.
Von hier aus folgt Maloof wiederum Hinweisen, die der unangepassten Außenseiterin eine „dunkle Seite“ oder gar eine „psychische Störung“ attestieren. So berichten ihre mittlerweile erwachsenen Schützlinge von zeitweiliger Vernachlässigung, seltener auch von Misshandlungen sowie von schockierenden Erlebnissen, denen sie von ihrer Betreuerin ausgesetzt wurden. Möglicherweise habe die 1926 in New York geborene Maier, deren familiäre Wurzeln in einem Bergdorf in den französischen Alpen liegen, unter einem Trauma gelitten. Der Zusammenhang zwischen künstlerischem Genie und seelischem Leiden scheint hier einmal mehr offensichtlich und erklärt zu einem Teil vielleicht auch ihre Abstinenz vom Kunstbetrieb. Aber wie alle Künstler war auch Vivian Maier, die sich mit den Armen identifiziert, sich als Spionin bezeichnet und dabei hinter ihrer Kamera versteckt hat, getrieben von dem Bedürfnis nach Mitteilung.