Ein Mädchen hatte eine Streichelziege. Und es lief gerne mit seiner Ziege herum. Aber die Ziege tat etwas, was den Vater böse machte. Die Ziege aß Sachen. Die Ziege aß Dosen und Kuchen und Katzen. Bis der Vater sagte, dass die Ziege gehen müsse, weil die Ziege zuviel aufesse. Da wurde das Mädchen traurig und versprach hoch und heilig, dass die Ziege nie wieder etwas aus dem Haus aufessen würde. – Einfach sind diese Worte und doch so geheimnisvoll, dass George W. Bush an jenem Morgen des 11. September 2001 über sieben Minuten lang in ihnen versank, als suche er dort nach einem tieferen Sinn. Dabei war es so einfach: Ein Mädchen hatte eine Streichelziege. Einige Minuten zuvor hatte Bushs Berater Andrew Card seinem Chef mitgeteilt, dass soeben zwei Flugzeuge ins World Trade Center geflogen seien. Also nochmal langsam: Die Ziege aß Sachen …
George Juniors beschwerliche Lektüre von Siegfried Engelmanns Kindergeschichte 'My Pet Goat' kursierte lange Zeit als Running Gag durch die einschlägigen Webforen. Der mächtigste Mensch der Welt, allein gelassen von seinem Beraterstab, von Condi und Rumsi und Daddy. Auch in Michael Moores neuem Film 'Fahrenheit 9/11' sind die Aufnahmen aus dem Grundschulklassenzimmer in Florida prominent plaziert; sie öffnen eine Gedankenklammer, die mit den geschäftlichen Beziehungen der Familien Bush und Bin Laden beginnt und sich zur gewagten These aufschwingt, dass saudiarabisches Geld das Schmieröl der amerikanischen Politik sei. Was mag in diesen sieben Minuten im Kopf George Juniors wohl vorgegangen sein, fragt Moore – und weiß die Antwort natürlich längst: 'Scheiße, ich häng’ mit den falschen Leuten rum.'
Den Begriff 'politische Dokumentation' auf 'Fahrenheit 9/11' anzuwenden, ist ungefähr so ergiebig, wie den Film auf genuin linke Positionen hin abzuklopfen. Moore hatte sein Ziel im Vorfeld bereits hinreichend publik gemacht: Bush muss weg, egal mit welchen Mitteln. Diese Meinung teilt er mit der amerikanischen Linken, aber auch mit konservativen Demokraten, Old-School-Konservativen und anderen 'guten Amerikanern'. Politisch ähnlich bunt sind die Argumente, die Moore in 'Fahrenheit 9/11' auffährt. Sie reichen von grundsätzlich konsensfähig bis haarsträubend. So wie Moore sich beliebig dokumentarischer und journalistisch-investigativer Mittel bedient, verwurstet er in seiner Anti-Bush-Polemik auch linke Argumente (die richtigen wie die falschen), wie sie ihm gerade ins Bild passen. Mit Differenzierungen hat er es nicht so.
Moore macht in 'Fahrenheit 9/11' was er immer schon am besten konnte: Er liefert eine Argumentation der blitzschnellen Effekte, deren Überzeugungskraft nicht auf Kohärenz, sondern auf schierer Opulenz beruht. Bereits nach der Hälfte des Films hat er alle Fakten, Hintergrundinformationen und Expertenmeinungen (u.a. kommt Craig Unger, Autor des Buches 'House of Bush, House of Saud' zu Wort) verpulvert, die als Grundlage eines sorgfältigen Argumentationsaufbaus dienlich gewesen wären. Nichts Neues hat bis dahin gehört (gesehen schon eher, denn eins muss man Moores Rechercheteam lassen: sein Bildmaterial ist unbezahlbar), wer sich in den letzten drei Jahren auch nur halbwegs ernsthaft mit den Folgen des 11. Septembers beschäftigt hat. Für die allerdings, und das ist der springende Punkt, hat Moore 'Fahrenheit 9/11' auch nicht gemacht.
Jean Luc Godard hat in Cannes, wo 'Fahrenheit 9/11' im Mai die Goldene Palme gewann, Moore vorgeworfen, dass er nicht zwischen Text und Bild unterscheiden könne. Dieser Vorwurf impliziert jedoch, dass Moore genau der Tölpel mit Kamera ist, als der er sich in seinen Filmen inszeniert. Tatsächlich weiß Moore sehr genau, wie er seine Bilder einzusetzen und zu kommentieren hat, um beim Zuschauer die gewünschten Reaktionen hervorzurufen. Da wird eine Kriegsrede Bushs mit spielenden Kindern in Afghanistan montiert; da werden die freundschaftlichen Zusammenkünfte der Häuser Bush und Saud mit dem REM-Song 'Shiny Happy People' untermalt. Das ist extrem platt – und verfehlt trotzdem seine Wirkung nicht. 'Fahrenheit 9/11' gucken ist wie den Filmapparat beim Arbeiten zu beobachten. Moore legt den Propagandacharakter seines Filmes mit jeder Montage, jedem Kommentar bereitwillig offen.
Eben deshalb perlt der Vorwurf des Populismus an Moore ab wie Wasser an einer Fettschicht. Zu behaupten, Moore neige zu groben Vereinfachungen, ist eine fahrlässige Verniedlichung. 'Fahrenheit 9/11' funktioniert noch viel rigoroser als frühere Moore-Filme: Um seine Thesen, Bush habe erstens den Demokraten die Wahl gestohlen, stehe zweitens unter dem finanziellen Einfluss der Saudis und sei drittens in Afghanistan und den Irak einmarschiert, um die Ölgeschäfte seiner Familie anzukurbeln, zu untermauern, hat sich Moore aus dem Fundus des Post-9/11-Recherchematerials seine eigenen kleinen Wahrheiten zusammengebastelt. Christopher Hitchens hat in einer von persönlichen Animositäten gefärbten Kritik im amerikanischen Online-Magazin 'slate.com' einige dieser falschen beziehungsweise halbwahren Behauptungen Moores zerpflückt.
Der wichtigste Kritikpunkt bezieht sich auf Moores Behauptung, die amerikanische Regierung habe während des nationalen Flugverbots nach den Anschlägen vom 11. September in sechs Privatjets und einem Dutzend Linienmaschinen 142 Personen arabischer Nationalität, darunter 24 Mitglieder der Bin-Laden-Familie, 'heimlich' außer Landes geschafft. In 'Fahrenheit 9/11' spinnt Moore eine große Verschwörungstheorie aus der bloßen Tatsache dieser Flüge. Hierbei nimmt er u.a. Bezug auf ein Interview, das Larry King mit Prinz Bandar, einem Vertrauten sowohl der Bin-Laden- als auch der Bush-Familie, im amerikanischen Fernsehen geführt hat. Die Flüge sind im vergangenen Herbst auch von der sogenannten '9/11'-Kommission untersucht worden.
Moores Verschwörungstheorie beruht jedoch auf reiner Spekulation. Wie inzwischen nachgewiesen wurde, gingen diese Flüge zwischen dem 14. und 24. September 2001, also nach der Wiederöffnung des Luftraums, außer Landes. Auch die '9/11'-Untersuchungskommission hat in ihrem Abschlussbericht das bürokratische Genehmigungsverfahren für diese Flüge nicht gerügt, sich jedoch besorgt über die Landung eines ominösen Privatjets auf dem Flughafen von Tampa, Florida, am 13. September 2001 geäußert – zu einem Zeitpunkt also, als weder private noch kommerzielle Maschinen den amerikanischen Luftraum benutzen durften. An Bord dieses Fliegers befanden sich laut einem Bericht der 'St. Petersburg Times' vom 9. Juli 2004 drei arabische Männer, einer von ihnen angeblich ein Mitglied des saudischen Königshauses, und ein ehemaliger FBI-Mitarbeiter. Die amerikanische Regierung hat die Existenz dieses Fluges bis vor wenigen Wochen vehement bestritten.
Ein Interview im amerikanischen Branchenblatt 'Entertainment Weekly' Anfang Juli 2004 gab einen kleinen Einblick in Moores Berufsethos als investigativer Journalist und Dokumentarfilmer. Er äußerte sich sehr gelassen zu den Ergebnissen der Kommission, die seine Behauptungen entkräftet hatten. Moores 'Der Zweck heiligt die Mittel'-Pragmatismus stört sich auch an größeren Schönheitsfehlern nicht. Allein die Tatsache, dass dieser eine Tampa-Flug so lange von der Regierung verschwiegen wurde, so Moore, rechtfertige die Vorwürfe, die er in 'Fahrenheit 9/11' erhebt. Ein Glück für ihn, dass die Amerikaner nach dem 9.11. so ausgiebig geschlampt haben. Die Chancen, da nicht fündig zu werden, sind gering, wenn man, wie Moore, mit Dynamit im Trüben fischt.
Bemerkenswert ist Moores Gabe der strikt selektiven Wahrnehmung vor allem in den Sequenzen, die Amerikas Gegner betreffen. In 'Fahrenheit 9/11' schafft er es innerhalb weniger Minuten, den Vorkriegs-Irak als souveränen Staat zu bezeichnen und obendrein zu behaupten, dass von Saddam Hussein niemals eine Gefahr ausgegangen sei. Was in Europa von vielen als beherzter Antiamerikanismus goutiert wird, erfüllt in 'Fahrenheit 9/11' jedoch eine ganz bestimmte Funktion: Moore instrumentalisiert Figuren wie Hussein oder auch Bin Laden, um die Niedertracht der eigenen Regierung zu verdeutlichen. Er interessiert sich nicht für eine Analyse der geopolitischen Zusammenhänge des 'War against Terror' (im Gegenteil geistert durch 'Fahrenheit 9/11' immer noch die fixe Idee einer Ölpipeline durch Afghanistan; die Informationen, auf die Moore sich hier beruft, sind inzwischen zwei Jahre alt). Jedes Bild, jeder Kommentar, jede Montage dient einzig dem Zweck, die Regierung Bush zu denunzieren. Sobald Moore die Fakten zu kompliziert werden, muss Sarkasmus den Film aus der Argumentationsnot retten.
Moores Unfähigkeit zur politischen Analyse zu kritisieren, heißt, nicht begriffen zu haben, was er eigentlich will. 'Fahrenheit 9/11' ist ein Non-Fiction-Film, der sich an ein Massenpublikum wendet. Moore hat damit aktiv in den laufenden US-Wahlkampf eingegriffen. Und er spielt das Spiel seiner Gegner bereitwillig mit. Er hat sich mit 'Fact-Checkern' und Anwälten (u.a. dem berüchtigten demokratischen Strategen Chris Lehane, den Moore seinen 'Chief Motherfucker' nennt) umgeben, die rechtlich gegen unliebsame Kritiker vorgehen, und lässt das Privatleben seiner zahlreichen Gegner (zu seinen erbittersten gehören Fox News-Moderator Bill O’Reilly und Jason Clarke, Autor des Buches 'Michael Moore is a Big Fat Stupid White Man') ausspionieren – so wie es in Amerika inzwischen in Fernsehsendungen, Büchern und auf Websites auch ihm geschieht. All das untermauert Moores Ruf als selbstgefälliges Arschloch. Aber Moore hat auch angekündigt, dass dieser Wahlkampf zu wichtig sei, um ihn den Demokraten zu überlassen.
Um diesen Aufwand zu verstehen, muss man wissen, dass 'Fahrenheit 9/11' in Amerika wie eine Wahlkampagne gelauncht wurde. Die überraschende Absage Disneys als Mutterkonzern des Verleihers Miramax hat ihren Werbeeffekt ebenso wenig verfehlt wie Moores Ansage, den Film vor allem in den Vor- und Kleinstädten spielen zu lassen, wo ein Großteil jener 'Swing Voter' lebt, die der Film erreichen soll. Mit seinen Promo-Aktivitäten hat sich der Verleih zudem auf jene US-Bundesstaaten konzentriert, in denen weder Bush noch Kerry sich auf eine eindeutige Mehrheit verlassen können – in denen die Wahl also entschieden wird. Unterstützt wird Moore dabei von Grassroots-Organisationen wie MoveOn.org, die ihre Mitglieder dazu auffordern, sich 'Fahrenheit 9/11' im Kino anzusehen. Das klingt verdächtig nach dem Getöse christlicher Gruppen um Mel Gibsons The Passion of Christ', ausgestattet mit der berufsjugendlichen Street-Credibility von 'MTV – Rock the Vote'. Doch Moore ist längst nicht mehr der Einzelkämpfer, als der er sich nach seiner Oscar-Schmährede 2003 gerne dargestellt hat. Die Enthüllungen um die Folterpraktiken in Abu Ghraib und die falschen CIA-Informationen über Massenvernichtungswaffen im Irak haben seinem Projekt in den letzten zwei Monaten zusätzlichen Rückenwind verschafft.
Dass Moores Strategie aufgegangen ist, zeigten schon die Einspielergebnisse vom ersten US-Startwochenende, das von Moore hochsymbolisch auf das Wochenende vor dem 4. Juli gesetzt wurde. Die knapp 25 Millionen Dollar Umsatz (trotz einer umstrittenen Altersfreigabe ab 17 Jahre) können zwar keinen Harry Potter beeindrucken, aber ein politisches Zeichen setzten sie allemal. Mit Rekordzuschauerzahlen in republikanerfreundlichen Bundesstaaten und selbst in Einzugsgebieten um Militärbasen findet der Aufstand der anständigen Amerikaner dieses Jahr in den Kinos statt.
An der Kinokasse wird über den wahren Erfolg Moores jedoch nicht entschieden. Auch ist irrelevant, ob deutsche oder französische Filmkritiker in Moore den neuen Eisenstein oder lediglich einen großmäuligen Blender mit ausgeprägtem Geschäftssinn sehen. Ob Michael Moore mittlerweile tatsächlich ein Penthouse an der Fifth Avenue besitzt oder abends seine schwieligen Füße auf seinem Balkon in einem Hot Tub kühlt, wie die 'Daily News' kürzlich berichtete, ändert nichts an der Tatsache, dass er mit 'Fahrenheit 9/11' etwas geschafft hat, was bisher weder der amerikanischen Linken noch Howard Dean gelungen ist: eine mediale Gegenöffentlichkeit herzustellen. Nach dem Wie fragt in sechs Monaten keiner mehr.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2004