Ausgerechnet jetzt, nach den Urteilen gegen Jafar Panahi und Mohammad Rassulof, kommt „Elly …“ in die Kinos. Der Film des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi, der 2009 auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, thematisiert den gesellschaftlichen Zwang zum falschen Spiel. Er zeigt, wie Menschen sich immer weiter in Lügen verstricken müssen, um ihren Hals zu retten. Dabei deutet er vieles nur subtil an und enthält sich klarer Wertungen – auf den ersten Blick eine große Leistung, die aber eine Kehrseite hat. Kritisch formuliert: Es bleibt alles im Ungefähren. Ausdrückliche Regimekritik gibt es nicht. Doch gerade deshalb ist der Film höchst spannend, denn an ihm lässt sich studieren, unter welchen Bedingungen im Iran Geschichten erzählt werden können und ein Film entsteht, der es sogar zum offiziellen Oscar-Kandidaten des Landes bringt.
Drei Paare wollen mit ihren Kindern für ein paar Tage Urlaub am Meer machen. Die Organisatorin des Ausflugs, Sepideh, hat auch Elly eingeladen, eine Kindergärtnerin ihrer Tochter. Sie kennt sie nicht wirklich gut, will sie aber mit ihrem Freund Ahmad verkuppeln, der in den Iran zurückgekehrt ist, nach der Scheidung von seiner deutschen Frau. Um kurzfristig ein Ferienhaus zu bekommen – es ist Hochsaison –, gibt Sepideh die beiden spontan als frisch getrautes Ehepaar aus. Schon am zweiten Tag aber, nach einem ziemlich ausgelassenen Abend, möchte Elly abreisen. Sepideh gibt sich alle Mühe, sie davon abzuhalten. Sie bittet Elly, auf die am Wasser spielenden Kinder aufzupassen, während sie noch ein paar Besorgungen erledigt. Doch wenig später muss eines der Kinder aus dem Meer geborgen werden und Elly ist verschwunden. Ist sie beim Versuch umgekommen, das Kind zu retten, oder hat sie sich heimlich davongemacht? Es entwickelt sich eine kammerspielartige Mystery-Geschichte, in deren Verlauf der so harmonisch scheinende Freundeskreis zerfällt.
Regisseur Farhadi nimmt sich sehr viel Zeit, sein Ensemble einzuführen, legt ein paar falsche Fährten und spielt mit der Erwartungshaltung, und das ist gut so, denn auf diese Weise wird der Zuschauer fast eingelullt vom erstaunlich alltäglichen Geschehen, das rein gar nichts mit den klischeehaften Iranbildern zu tun hat, die man als unbedarfter deutscher Kinogänger im Kopf haben mag. Doch es bleibt nicht idyllisch, schon früh werden Irritationen erkennbar, und die Szene im Wasser schließlich, ein realistisch-hektischer, fast in quälender Echtzeit inszenierter Schock, markiert einen Bruch im Film. Sepideh muss sich ihren Freunden gegenüber rechtfertigen, und ihre Rolle erweist sich als hochproblematisch: Sie wusste, dass Elly verlobt ist. Durch ihren Verkupplungsversuch hat Sepideh sich strafbar gemacht und auch ihre Freunde in große Gefahr gebracht. Die lockere Atmosphäre weicht der Angst, die Solidarität bröckelt. Und plötzlich wird klar, dass die scheinbar liberale Haltung der Protagonisten ihre Grenzen hat.
Sepidehs Situation scheint ausweglos, und ihre Angst wird größer. In ihr manifestiert sich Unausgesprochenes, denn tatsächlich wird im Film niemals formuliert, mit welcher Strafe sie zu rechnen hätte, dass es höchstwahrscheinlich um Leben und Tod geht. Sepidehs Verantwortung für die Katastrophe wird trotzdem nie relativiert. Dies ließe sich, eine ordentliche Portion bösen Willens bei der Rezeption vorausgesetzt, auch als moralisches Urteil über die Figur, als Denunziation missverstehen. Doch damit täte man dem Film und seinem Regisseur Unrecht. Die Uneindeutigkeit – mag sie auch einer gewissen Konformität geschuldet sein –, das Fehlen von klaren Haltungen, das Abschieben von Verantwortung thematisiert der Film ja gerade. Und er zeigt zum Schluss, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, die Situation unbeschadet aufzulösen.
Asghar Farhadi widerstrebt es, seinem Film politische Bedeutung beizumessen. Im Gegensatz zu seiner Hauptdarstellerin Golshifteh Farahani hat er dem Iran nicht den Rücken gekehrt. Er setzt auf den reifen Zuschauer, denn „Film, anstatt ein Gedankensystem einzuprägen, soll einen Raum anbahnen, in dem der Zuschauer sich in einen eigenen Überlegungsgang engagiert und vom Konsumenten zum Gedankenschöpfer entwickelt. Dieser Weg ist der einzige, den der heutige Film einschlagen kann.“ Zumindest für den Iran scheint das zuzutreffen.