Claude Chabrols Film 'Eine Frauensache' erzählt uns etwas über uns, was wir vorher noch nicht wußten. Und niemand sagt uns, was wir davon zu halten haben
'Gegrüßet seist Du, Marie voller Scheiße, verfault ist die Frucht Deines Leibes', betet die Marie des Films (Isabelle Huppert), dann fällt die Guillotine. Cherbourg, 30. Juli 1943. Das Vichy-Regime hat herausgefunden, wem gegenüber es Macht demonstrieren kann: gegenüber einer Frau, die abtreibt und damit gegen die Staatsideologie verstößt: Travail, Famille, Patrie. Die Abtreibung ist auch ein politisches Verbrechen.
Paris 1988. Frankreichs Katholiken werfen eine Tränengasbombe in ein Kino, das 'Eine Frauensache' zeigt. Einer der Zuschauer stirbt an den Folgen. In Gottes Namen, der aber auch der Name Pétains sowie seiner Heiligkeit in Rom ist. Denn von der Blasphemie des Films fühlen sich gleichermaßen die neuen Freunde der alten Kollaborationsregierung wie die Abtreibungsgegner in aller Welt getroffen.
Völlig zu Recht. Denn Claude Chabrols 'Frauensache' ist eine Parabel, die all die verstören muss, die unerbittlich Recht behalten wollen. Und schon immer alles vorher gewusst haben. Der Film spielt grandios und gradezu unverschämt mit dem Bedürfnis, sich Ansichten zurechtzumachen, das heißt mit uns, und zieht Aufmerksamkeit und Anteilnahme auf das unerlässliche, aber gern vernachlässigte Vorfeld, auf dem es nichts weiter als wahrzunehmen und Erfahrungen zu sammeln gilt. Insofern ist 'Eine Frauensache' zutiefst amoralisch. Aber grade weil ihm das so gut gelingt und weil die großartige Interpretation der Marie durch Isabelle Huppert unsere volle Aufmerksamkeit und Anteilnahme erzwingt, ist der Film schlicht human.
Indem 'Eine Frauensache' uns nah kommt und gegenwärtig, schließlich zu unserer Sache wird, rehabilitiert er die historische Marie-Louise Giraud, die auf einen – authentischen – Kriminalfall reduziert worden ist. Nachzulesen in dem gleichnamigen Buch von Francis Szpiner (éd. Balland), das dem Drehbuch zu Grunde lag. Im Film macht Marie eine Karriere, von der wir weder wissen, was wir davon halten sollen, noch wohin sie führen soll, weil wir damit beschäftigt sind, ihr dabei zuzusehen.
Dass Nachbarin Ginette im Senfbad sitzt, kann sie nicht mit ansehen, weil sie weiß, dass das nichts nützt. Marie holt eine Schüssel mit Seifenlauge, auch ein Klistiergerät und hilft der Frau, die ihr zuvor ihrerseits behilflich gewesen ist und die Kaffeemühle ausgeliehen hat. Ein Tausch unter Frauen, nichts weiter. Doch. Ginette entgilt die Leistung mit einem Grammophon. Das ist ein unerhörter Luxus im Kleinbürgerviertel der Stadt. Marie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie lächelt, tanzt. Eine Ahnung, dass es anders sein könnte – als Regen, Enge, Alleinsein, Hunger, die Misere. Sie macht die Abtreibung zum Geschäft, verblüfft darüber, wie rege ihre Dienstleistung in Anspruch genommen wird. Das Interesse, nämlich die Not der Kundinnen, treibt sie in die Rolle einer Unternehmerin. Ein Kleid, Geld, der Umzug in eine bessere Wohnung. Ein Freund, der clever, smart und daher auch ein bißchen Kollaborateur ist: 'den Nazis beim Unkrautjäten helfen'.
Wir kommen mit unserer Anteilnahme, unserer Sympathie ins Schleudern. Marie, Kind und Erwachsene, hilflos und gierig, fröhlich und launisch, frivol und verletzlich, lieb und böse, – ihre Sehnsucht nach Befreiung und Aufstieg erscheint unversehens, in einem nicht mehr definierbaren Moment, versehrt und beschmutzt. Aber grade dann, wenn wir fertig sein möchten mit ihr und ihren Ambivalenzen und wenn das Urteil festzustehen scheint, wird unseren Reflektionen durch nackte Tatsachen und schiere Gewalt wieder der Boden entzogen. Marie, die verhaftet und der der Prozess gemacht wird, erscheint als Opfer einer reaktionären Justiz, die ein Exempel statuieren und sich an ihr rächen wird – für die eigene Feigheit vor dem Feind.
So wie Marie darf keine sein, sagen die Männer, die sich als wohlfeiles Opfer eine Frau ausgesucht haben, welche die ausgerufene Doktrin schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen hat. Einfach nur Frau sein: das entzieht den Männern, die ihre Macht über ein eigens erdachtes Regelsystem ausüben, den Boden. Eine Provokation, von der Marie nichts weiß.
Sie tanzt mit Rahel und sagt der anderen Frau einen Männersatz: 'Sie haben so schöne Augen, mein Fräulein'. Auch das darf nicht sein. Eine Frau hat auf Männer Rücksicht zu nehmen. Grade in heroischen Zeiten, im Krieg. Marie, die naive, schlaue, nimmt keine Rücksicht, weil ihr gar nicht in den Sinn kommt, dass Heroisches zu sehen ist. Ihr Mann kommt aus dem Krieg zurück, ein Invalide. Marie nimmt ihn kaum wahr, wie er, ebenso eifrig wie verzweifelt, Zeitungsausschnitte zusammenklebt. Aber kaum will der Mann uns dauern, klebt er aus Großbuchstaben ein anonymes Schreiben an die Polizei zusammen und denunziert seine Frau. Wir müssen es aufgeben, unsere Sympathien verteilen zu wollen. Auch der kleine Mann, ihr Sohn, der mit großen traurigen Kinderaugen in die Welt blickt und so tapfer die Rolle des Vaters zu übernehmen versucht, rührt uns an, wie er immer wieder und doch vergeblich, die Liebe der Mutter sucht, die sich ihm entzieht. Bis wir erfahren, was er werden will: ein Henker.
Auf den Zuschauer, der zwischen Schuld- und Freispruch pendelt, übertragen sich die Ambivalenzen des Films: eine eigene Erfahrung des Richtigen im Falschen und des Guten im Bösen. Also hat 'Eine Frauensache' doch einen moralischen Effekt, grade weil Chabrol strikt vermeidet, zu plädieren – für die Abtreibung, gegen die Todesstrafe. Stattdessen wird eine Nebenperson, nein: eine Unperson der Zeitgeschichte zur Hauptsache. Marie-Louise Giraud drückt mit der schieren Präsenz der Schauspielerin Huppert das Zeitgeschehen an den Rand, ins Nebensächliche. Rahel ist eines Tages nicht mehr da, Juden werden deportiert. Marie sagt dazu: 'Rahel, die ist niemals Jüdin, die doch nicht', weil sie sie in Schutz nehmen will. – Nur in einer einzigen Sequenz sind in diesem Film Naziuniformen zu sehen. Auf einem örtlichen Folklorefest. Wer eine lebende Gans köpft, auf einen Streich, hat gewonnen; das macht auch den Deutschen Spaß. Marie guckt nicht hin. Nicht etwa, weil sie das nicht will, sondern weil sie ihren Freund sucht. Sie bleibt unberührt von dem, was um sie herum passiert.
Chabrol zeigt die Huppert in fast jedem Bild seines Films, und erst durch sie, durch ihre Darstellungskraft, gewinnen die Dinge Realität. Es gibt keine Totalen, die Übersicht vorgaukeln. Kein naturalistisches Ausmalen, in das sich die Darsteller einbetten könnten. Keine Arme-Leute-Idyllen, die den Blick anzögen. Huppert bleibt die Hauptperson, weil sie zu den Dingen, die um sie herum sind, auf Distanz gegangen ist, unerreichbar. Nur die Sachen, die sie betrachtet, die sie berührt, werden real. Im Polizeiauto, in Paris, versucht sie durch ein winziges Fenster den Eiffelturm zu sehen. Sie sieht ihn nicht, und es gibt ihn nicht. Real wird dagegen die Postkarte werden, auf der er abgebildet ist. Der Anwalt möchte doch bitte eine kaufen und den Kindern schicken.
Chabrols Film bewegt unser Gewissen, indem er die zeitgeschichtlichen Hierarchien abbaut. Die Vielheit und Einheit eines konkreten Menschen ist in den Mittelpunkt des historischen Ensembles gerückt und als gegenwärtig erfahrbar geworden. Das korrespondiert einer gerade entdeckten Forschungsmethode, der 'Humangeographie'. 'Der Historiker sollte sich an dem Ort niederlassen, an dem sich alle Einflüsse kreuzen, überschneiden und miteinander verschmelzen: im Bewusstsein des in der Gesellschaft lebenden Menschen. Dort wird er die Aktionen und Reaktionen erfassen und die Wirkung der materiellen und moralischen Kräfte, die auf jede Generation einwirken, messen können' (Lucien Febvre in 'Das Gewissen des Historikers', Wagenbach 1988).
In 'Eine Frauensache' erfahren wir daher etwas über uns. Etwas, das wir vorher nicht gewusst haben. Etwas Schönes, Schauriges, Erschreckendes, Wissenswertes. Und niemand sagt uns, was wir davon halten sollen. Die Marie des Films repräsentiert nichts anderes als sich selbst; gleiches wird für den Zuschauer gelten. Die sinnstiftenden Vermittler bleiben außen vor. Offenbar ein Phänomen, das sich nicht auf die 'Frauensache' beschränkt. 'Die Deutschen müssen jetzt das Gefühl entwickeln, dass sie es waren. Wir alle suchen nach Bildern, die uns Anhaltspunkte geben in einer Zeit, die uns alles erklärt hat', schrieb Christoph Schlingensief und drehte den Film '100 Jahre Adolf Hitler/Die letzte Stunde im Führerbunker', der zusammen mit 'Eine Frauensache' auf den Berliner Filmfestspielen gezeigt wurde. Bevor wir jetzt unsere Ansichten zurechtmachen, empfehle ich gefl. den Gang ins Kino.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/1989