Eine melancholische Stimmung, unterstützt durch die Musik der Pop-Jazzband Dez Mona, liegt über den ersten Bildern von Ilma Raags Film „Eine Dame in Paris“ („Une Estonienne à Paris“). Durch die dunklen, verschneiten Straßen einer namenlosen estnischen Stadt fährt ein Bus. Anne Rand (Laine Mägi), eine blasse, erschöpfte Frau mittleren Alters, befindet sich auf dem Heimweg zu ihrer alten, kranken Mutter. Unterwegs torkelt ihr im fahlen Licht einer Straßenlaterne ihr sturzbetrunkener Schwager Toomas entgegen. Seit zwölf Jahren ist Anne, die einmal Französisch studiert hat, danach aber als Altenpflegerin arbeiten musste, geschieden. Die erwachsenen Kinder sind aus dem Haus und Anne ist darüber einsam geworden. Eines Nachts hört die Mutter auf zu atmen und zu Annes Einsamkeit kommt das Alleinsein – ohne Perspektive und Aufgabe. Bis sie kurz darauf ein Jobangebot aus Frankreich erreicht: Sie soll in Paris eine alte, eigenwillige Estin betreuen.
Was wie ein tristes, nordisches Sozialdrama beginnt, verwandelt sich nach Annes Ankunft in der Seine-Metropole in ein subtiles Kammerspiel, in dessen Mittelpunkt gleich zwei einsame Frauen stehen. Denn die betagte Frida (Jeanne Moreau), eine ebenso elegante wie lebensüberdrüssige Dame, lebt fast vollständig isoliert; wäre da nicht noch ihr ehemaliger, jüngerer Liebhaber Stéphane (Patrick Pineau), den sie wie einen Sohn behandelt und der gegen ihren Willen die estnische Betreuerin engagiert hat. Das bekommt Anne bei der ersten Begegnung mit Frida auch gleich vehement zu spüren. Hinter dem von Stéphane als „unverblümte Art“ beschönigten Charakter der resoluten Dame steckt pure Misanthropie. Die herrische Alte, die weder etwas bedauert noch bereut, zeigt sich verbittert, gehässig und böswillig. Dahinter wiederum verbirgt sich ein tiefsitzendes Gefühl des Verlusts, mit dem Frida einem lustvollen Leben und ihrem verlorenen Liebhaber nachtrauert.
Anne kompensiert die demütigende Ablehnung zunächst mit nächtlichen Spaziergängen, auf denen ihre alten, fernen Träume einen Hauch von Erfüllung finden und ihr verschüttetes Selbstbewusstsein zu wachsen beginnt. Nach ersten Rückschlägen und Grenzziehungen nähern sich die beiden Frauen unter Stéphanes moderater Vermittlung aber auch zaghaft einander an, werden dabei kurzzeitig zu Komplizinnen und müssen ihr gegenseitiges Vertrauen doch immer wieder neu gewinnen. Ruhig und unspektakulär entwickelt Ilmar Raag dieses leise Drama zwischen zwei einsamen Frauen, deren unterschiedliche Temperamente aufeinander stoßen, sich aneinander reiben, um sich dem Austausch zu öffnen und die (innere) Heimatlosigkeit der Protagonistinnen zu durchbrechen. Das ist, gemessen an den großen, oft lautstarken Kinodramen vielleicht nicht viel, im Kontext dieses eher „kleinen“, aufrichtigen Films aber auch nicht wenig.