Ich weigere mich, dem Film zu glauben. Ich glaube nicht, dass der Absturz ins Elend nach Klischee abläuft, nach der Abhakliste, gemäß der der Film vorgeht. Burnout, Nervenzusammenbruch, Psychiatrie: OK. Doch dann geht alles seinen allzu schnellen, allzu glatten Niedergang. Eine Menge Medikamente, deren Einnahmereihenfolge sich kein Mensch merken kann, keinerlei Fürsorge nach der Entlassung aus der Klinik, Verlust von Beruf, Freundin und Wohnung – Obdachlosigkeit und Alkoholismus bleiben. Dazu wird Martin, der brillante Mathematiker mit labiler Psyche, vom Aufsichtsratsvorsitzenden einer Bank(!) angefahren. Als ihn seine Klinikärztin in einer Unterführung (neben Nacht und Abrisshaus der bevorzugte Schauplatz dieses ersten Filmteils) erkennt, ermahnt sie ihn überflüssigerweise: „Kommen Sie zurück in die Klinik! So macht das doch keinen Sinn!“ Dann geht sie weiter. Und Martin bleibt zurück mit seinem einzigen Freund, der Flasche, in die er den wohlfeilen Ratschlag nicht hineinfüllen kann. Dann lernt er Viktor kennen, einen ukrainischen Jungen.
Was einem hier vorgesetzt wird, vor dem Hintergrund einer extrem kalten, unmenschlichen Welt, ist äußerst tragisch – und leider äußerst lieblos inszeniert. Station für Station geht es abwärts, einfach und allzu offensichtlich auf die dramatische Wirkung hin erzählt: Viktor sammelt Pfandflaschen, kauft der Mutter Wodka, die er aber dann zuhause tot auf dem Sofa vorfindet … Das grenzt an Tränendrüsen-Elendsvoyeurismus, ebenso wie die Traum-Rückblende Martins auf den prügelnden Vater.
Und erst, wenn Martin und Viktor in den Wald gehen, findet der Film zu sich, wie auch Martin sich hier sammeln kann. Die beiden bauen eine Hütte, leben von dem, was sie sich erarbeiten, was sie vorfinden, Weltflucht in Naturidylle ist das mit romantischem Einschlag Rousseau’scher und Thoreau’scher Prägung. Das ist die Stärke des Films, wie Ausgeschlossene aus der Gesellschaft sich ihren Ausstieg bewusst machen, ihn bewusst leben. Äste, Plastikplanen, Wellblech, später kommen Ofen und Spiegel dazu: Hier in der Natur kann man sich etwas Eigenes aufbauen, hier kann der Mensch Mensch sein, auf ganz archetypische Weise. In magischer Vollmondnacht trifft Martin tatsächlich auf einen Wolf, den wilden, mythischen Einsamen, der er im Grunde selber ist.
Was Hans Weingartner will, ist eine Anklage gegen die Leistungsgesellschaft und tatsächlich klagt er an, plädiert er aus voller Kehle wider den Zwang zu beruflicher und menschlicher Dauerbelastbarkeit, wider die Anpassung an ein System, in dem das Ökonomische das Soziale verdrängt hat. Und er will erzählen davon, wie dieses System krank macht, wie es letztlich selbst krank ist, weil es die, die anders sind, nicht integrieren, sondern „heilen“ möchte. Doch muss Weingartner so plakativ vorgehen, muss er so reißbrettartig inszenieren? Muss der Film immer wieder in Szenen münden, die vorhersehbar sich im Offensichtlichen auflösen?
Weingartner kann feinfühliger inszenieren – das Schizophrenie-Drama „Das weiße Rauschen“ (sein Debütfilm) oder der Zweitling „Die fetten Jahre sind vorbei“ beweisen es, ebenso wie einige Szenen in „Die Summe meiner einzelnen Teile“. Im Ganzen aber bleibt dieser Film leider stets unter seinen Möglichkeiten; er ist nicht, wie er gedacht wurde.