„Die Hölle von Henri-Georges Clouzot“: Einen doppeldeutigen Titel trägt dieser Film über einen Film, der nicht sein sollte. Im Sommer 1964 drehte Henri-Georges Clouzot irgendwo in der Auvergne einen neuen Film, genannt „L’Enfer“, „Die Hölle“. Clouzot war der gefeierte Starregisseur Frankreichs. Er konnte sich aussuchen, was er machen wollte, konnte sich Besetzung und Crew nach Gusto zusammenstellen, und er verfügte über unerschöpfliche Mittel: Das amerikanische Columbia-Studio hatte ihm ein unbegrenztes Budget zugesagt. Ein entsprechend großer, wegweisender, revolutionärer Film sollte „L’Enfer“ werden; er geriet zu einem teuflischen Desaster, das mit depressivem Hauptdarsteller und einem Herzinfarkt des Regisseurs endete.
Was vom Filme übrigblieb: 185 Dosen, 14 Stunden belichteter Film ohne Ton, im Besitz der Versicherungsgesellschaften, die für den Drehabbruch bezahlt hatten. Nun – weil er Clouzots Witwe Ines in einem steckengebliebenen Aufzug beschwatzt hatte – konnte der französische Filmhistoriker Serge Bromberg „L’Enfer“ wiederbeleben; weniger als Arzt denn als eine Art Frankenstein, der sein Wesen aus den fragmentarischen Filmszenen zusammenstückelt und zugleich von Entstehung und Untergang des Projektes erzählt.
„L’Enfer“ sollte ein Eifersuchtspsychodrama werden, besetzt mit Serge Reggiani und Romy Schneider, in dem sich ein Ehemann immer tiefer in neurotische, schizophrene Wahnideen verstrickt. Zusammen führen sie ein Hotel an einem See, im Hintergrund ein Viadukt – doch Ruhe findet der Geist von Reggiani nie. Gedanken von Untreue, Promiskuität und Liebesverlust bohren sich in seinen Verstand. Eine einfache Geschichte eigentlich; doch wie den Wahnsinn darstellen? Und hier beginnt schon der Wahnsinn der „Hölle“.
Schon im Vorfeld, noch ohne Schauspieler, führte Clouzot monatelang unendliche Kameratests durch, scheinbar wahllos wurden neue optische Effekte ausprobiert, Inspiration gesucht bei der modernen, avantgardistischen kinetischen Kunst mit irremachenden, die Perspektive auflösenden Gemälden und Skulpturen, bei Tonkünstlern mit verzerrten, verdrehten Geräuschen. Geld und Zeit waren ja reichlich vorhanden und natürlich auch die Handwerker an der Kamera, die halluzinierende Bildeffekte, Spiegelungen, Lichtverwirrungen, kaleidoskopische Drehungen und Dopplungen kreierten. Wochenlang wurden dann die Darsteller – Schneider, Reggiani, Dany Carrel und Jean-Claude Bercq – herangezogen für Szenen, die im Wahnsinn spielen, in merkwürdigen Farben beleuchtet, visuell gedoppelt, halbiert, auf den Kopf gestellt, bizarr geschminkt, auf nackte Körper sind Formen und Farben projiziert… Delierierende Traumbilder en masse, von denen stets unklar bleibt, wie Clouzot das in die Handlung eines Filmes der Klasse Erzählkino integrieren sollte.
Neben diesen optischen Trickaufnahmen wurden in der Auvergne, wo sich See, Hotel und Viadukt idealtypisch fanden, Außenaufnahmen gedreht, im Gegensatz zu den Wahnbildern in Schwarzweiß, und darunter sind grandiose Sequenzen, wie sie nur Clouzot, der sezierende Chirurg menschlicher Psyche, finden konnte. Selbst aus den recht unzusammenhängend gedrehten Szenen geht noch die klare Filmsprache, die psychologische Genauigkeit, die dramaturgische Zwangsläufigkeit hervor. Wie Romy Schneider auf dem See Wasserski fährt, während ihr Mann im Hintergrund am Ufer nebenher läuft – so wie sich sein Verstand verrannt hat…
Bromberg rekonstruiert die Handlung anhand der vorhandenen Szenen. Zugleich ist seine Dokumentation ein Making of, mit Interviews mit den damals Beteiligten, mit Fotos und Filmaufnahmen hinter den Kulissen; und ebenso ist „L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot“ sozusagen mit Audiokommentar ausgestattet, mit der begleitenden, einordnenden Stimme Brombergs. Sein Film vereinigt also zugleich all die Tugenden, die man auf DVDs nicht mehr missen möchte, wodurch in 90 Minuten ein umfassender, multiperspektivischer Blick auf Clouzots Film möglich ist.
Dazu bietet die DVD von Kinowelt Extras, die den originalen „L’Enfer“ ebenso wie „L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot“ ergänzen: ein Interview mit Bromberg, in dem er von seiner Begeisterung für das Projekt, von Materialsichtung und -auswahl spricht. Und ein einstündiges Feature mit erweiterten Interviews der Beteiligten und zusätzlichen Originalszenen, die den eigentlichen Film nicht doppeln, sondern tatsächlich weitere Einsichten bieten: ein nachträgliches Making of des nie fertiggestellten Filmes, das dessen fragmentarische Rekonstruktion vertieft.
Wirklich interessant ist die Beigabe von Clouzots letztem Film, „Seine Gefangene“ / „La Prisionnère“ von 1968, in dem er auf die für „L’Enfer“ entwickelten Stilismen zurückgreift, was optische Tricks angeht. Der Film selbst ist kein Clouzot-Meisterwerk, wiewohl in seiner Erforschung der Zwänge der menschlichen Psyche durchaus sehenswert: eine verkorkste, tragische Liebesgeschichte, in der eine Frau sich aus Liebe in ein ehebrecherisches, unterwürfiges Verhältnis zu einem Sadisten begibt – im Grunde eine Geschichte wie die von Steven Shainbergs „Secretary“ (2002), mit Maggie Gyllenhall und James Spader, nur ins Tragische gewendet. Der Film spielt im Milieu der Avantgardekunst, der betrogene Ehemann ist Künstler, der Film zeigt einige Kunstwerke zeitgenössischer Künstler. Und er spielt mit optischen Illusionen, zeigt den Parallax-Effekt beim Zukneifen eines Auges oder eine Zugfahrt, die zum Rausch vorbeirasender Bilder wird. Doch erst am Ende begreift man, was Clouzot mit „L’Enfer“ vorhatte, mit all den Wahn-Aufnahmen, mit denen er sich und seine Schauspieler malträtierte: In einer minutenlangen Traum-Deliriums-Halluzinations-Wahnsinnssequenz verliert sich die gequält Liebende in Imaginationsbildern, und es wird klar, dass aus „L’Enfer“, unter besseren Voraussetzungen, eben doch ein Meisterwerk hätte werden können. Auch wenn alles so disparat und willkürlich scheint.