Die getäuschte Frau

(D / NL / B 2015; Regie: Sacha Polak)

Das Märchen vom Ende der Straße

Eine Straße, ein nicht allzu tiefer Kanal, ein roter Kleinwagen, eine verstörte Frau, ein neugieriger Gepard. Mit einem forciert rätselhaften Tableau beginnt der neue Film von Sacha Polak („Hemel“), dessen Originaltitel „Zurich“ bewusst »offen« gehalten ist. Leider verrät der deutschsprachige Verleihtitel bereits die Ursache eines recht frei mäandernden Bilder- und Szeneflusses, die der Film selbst durch betonte Unbestimmtheit und A-Chronologie möglichst lange herauszuzögern versucht. Nach dem Auftakt folgt ein Insert: „Teil 2, Hund“. Eine Frau driftet mit seltsam ausdruckslosem Gesichtsausdruck durch Nicht-Orte wie Autobahn-Raststätten, Trucker-Kneipen und Motels. Sie scheint nirgendwo dazu zu gehören, sucht aber Gesellschaft und Nähe, ohne dabei Präsenz zu zeigen. Einmal nähert sie sich von hinten einem Unbekannten, riecht an ihm, legt schließlich die Arme um ihn und schmiegt sich an. Eine Verwechslung? Eher ein parasitäres Verhalten.

Beim Trampen lernt sie einen deutschen Trucker kennen, der sich auf sie einzulassen versucht. Als sie, die Nina heißt, einen Tag mit ihm und seinen Kindern verbringt, wird es am Abend beim Pizzaessen kritisch: „Wo wohnst du?“ „Hast du auch Kinder?“ „Und einen Mann?“ Schon vorher hatte Nina einen Tramper mitgenommen. „Sind Sie verheiratet?“ „Ich bin geschieden. Er hat mich verlassen. Er ist tot. Er ist gegen die Leitplanke gefahren.“ Es ist spannend zu registrieren, wie der Film rätselhaft bleiben will und gleichzeitig doch die Puzzleteile ausspielt, die dann im zweiten Teil des Films („Teil 1, Boris“) durchaus penibel zusammengesetzt werden, um dann eine Geschichte zu ergeben. Immer in Bewegung bleiben. „These boots are made for walking“, singt Nina, die sich wiederholt als Sängerin bezeichnet, in der Truckerkneipe, bevor sie ein Gesicht im Publikum zu erkennen glaubt. Oder sind das Phantasmagorien? Später, in einer Auseinandersetzung, wird sie (rhetorisch) gefragt: „Was ist los mit dir? Du machst immer dicht!“ Der Film tut es ihr gleich: er macht dicht und auch wieder nicht, denn „Kapitel 2“ erzählt die Folgen von „Kapitel 1“. Und das „Davor“ wird nachgereicht und verknüpft mit den Dingen des „Danach“, die vor uns ausgebreitet bzw. angespielt wurden. Passt – und hat gar nicht so viel Luft.

Der Gravitationspunkt des Films erzählt davon, wie es sich anfühlt, wenn die sicher geglaubte Doppel-Biografie einer gelungenen Partnerschaft nach dem Tod eines Partners sich als Fiktion darstellt. Nina verliert den Boden unter den Füßen und schaltet sich ab, macht dicht, sucht Nähe, aber gibt nichts. Man vergleiche einmal das Schauspiel der Nicht-Schauspielerin Wende Snijders (die tatsächlich eine Sängerin ist) mit Sandra Hüllers Fassungslosigkeit in Jan Schomburgs ganz ähnlich gelagertem „Über uns das All“! Viele Fragen, die Nina gestellt werden, beantwortet an ihrer Stelle dann nach und nach der Film! Und, nein, der Hund, den Nina entführt und „Hund“ nennt, damit das 2. Kapitel einen Titel bekommt, überlebt den Film ebenso wenig wie Boris, der Fernfahrer, der Nina »täuschte«. Und Nina selbst? Das surreale Anfangstableau des Films bleibt ungeklärt. Styx? Der Fluss des Straßenverkehrs, auch davon erzählt der Film in Worten und Bildern, bietet viele Möglichkeiten, ums Leben zu kommen. Manchmal eine Unachtsamkeit, manchmal eine Leitplanke, manchmal ein Baumstamm, manchmal der Lebensüberdruss. Die Straße gibt, die Straße nimmt. Truckerwissen in Transitländern zumal. Sacha Polak erzählt von den Mühen des Überlebens. Sakrale Musik einsetzend. Die Puzzleteile faszinieren, das fertige Bild wirkt etwas – prätentiös?

Benotung des Films :

Ulrich Kriest
Die getäuschte Frau
(Zurich)
Deutschland / Niederlande / Belgien 2015 - 86 min.
Regie: Sacha Polak - Drehbuch: Helena van der Meulen - Produktion: Chris Jorna, Simon Ofenloch, Dries Phlypo, Oliver Röpke, Marleen Slot, Karsten Stöter - Bildgestaltung: Frank van den Eeden - Montage: Axel Skovdal Roelofs - Verleih: Zorro - Besetzung: Barry Atsma, Eva Duijvestein, Waléra Kanischtscheff, Sascha Alexander, Tristan Göbel, Wende Snijders, Sacha Alexander Gersak
Kinostart (D): 30.07.2015

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt3257638/