Noch bis ins 19. Jahrhundert galt der Chimborazo in Ecuador, ein über 6000 Meter hoher inaktiver Vulkan mit einer gewaltigen Gletscher-Kuppe, als „höchster Punkt der Erde“ und als „Wahrzeichen Amerikas“. Zu diesem „Ort, wo noch niemand war“, unternimmt im Jahre 1802 der 32-jährige Naturforscher Alexander von Humboldt (Jan Josef Liefers) eine Expedition. Zusammen mit dem französischen Arzt und Botaniker Aimé Bonpland (Olivier Pascalin), dem Aristokraten Carlos Montúfar (Luis Miguel Campos) sowie einer Gruppe indigener Lastenträger will der deutsche Forscher, von enormer wissenschaftlicher Unruhe getrieben, Neuland erkunden und vermessen. Denn: „Kein Wort kann die Anschauung ersetzen.“ Die Strapazen der gefährlichen Unternehmung, beispielsweise verdeutlicht an der Überquerung eines reißenden Flusses, sind enorm. Doch dem Regisseur Rainer Simon, der den Film „Die Besteigung des Chimborazo“ 1988 noch für die DEFA an Originalschauplätzen gedreht hat, geht es nicht um die äußere Dramatik der episodisch erzählten Ereignisse, sondern um die innere Reise seines Protagonisten.
Zwar beginnt der Film wie ein psychedelischer, von elektronischer Musik unterstützter Trip durch gleißendes Sonnenlicht, farbige Wolkenmeere und vulkanische Feuersglut, um in faszinierenden Bildern, aufgenommen von Roland Dressel, die unbändigen Kräfte der Natur zu beschwören. Doch bald darauf wird der mal panoramatische, mal dokumentarische Erzählgestus unterbrochen von sepiabraunen Rückblenden in Humboldts biographische Vergangenheit. In nahtlosen Übergängen zwischen den verschiedenen Zeitebenen beleuchtet Simon lose verknüpfte Stationen einer gedanklichen Expedition. Als anspielungsreiche, sehr kalkuliert gebaute Erzählung einer Persönlichkeitswerdung portraitiert der renommierte DEFA-Regisseur einen Forscher, dessen leidenschaftlicher Freiheits- und Erkenntnisdrang in hartem Kontrast steht zu der von ihm als sehr einengend empfundenen preußischen Gesellschaft. Angesteckt vom „Freiheitsbrausen“ der französischen Revolution und einer unbändigen Sehnsucht nach der Ferne, versteht Humboldt das Leben als „einen Horizont ohne Grenzen“.
Gerade dieser Drang, der deutschen Enge zu entfliehen und dabei im Widerstreit mit einer restriktiven Umgebung dem individuellen Traum zu folgen, habe ihn an Alexander von Humboldt interessiert und zur Identifikation eingeladen, bekennt Rainer Simon im Werkstattgespräch mit Michael Hanisch. Dieses ist neben einer mittellangen Dokumentation über eine nachgespielte Legende der Chachi-Indianer Ecuadors („Der Ruf des Fayu Ujmu', 2002) und Simons „Chimborazo-Tagebüchern“ als Bonusmaterial der sorgfältig gestalteten DVD beigegeben. So sei „Die Besteigung des Chimborazo“ nicht nur sein wichtigster Film, sondern dieser habe auch sein Leben verändert, erläutert der Regisseur. Dabei reflektiert er auf versteckte Weise nicht nur die Parallelen zwischen Preußen und der DDR, sondern er weitet den Blick auch auf die kolonialistische Ausbeutung und Unterdrückung in der neuen Welt. Wenn Humboldt, um den Einheit stiftenden Nutzen seiner Mission zu rechtfertigen, gegenüber den Indigenen davon spricht, dass die nach Befreiung strebende Macht eines Volkes in seinem Wissen liege, dann passt das also durchaus ins ideologische Konzept des real existierenden Sozialismus. Daneben klingen allerdings Sätze, die der individuellen Freiheitssuche Humboldts huldigen, geradezu offen (und zugleich verborgen) subversiv, etwa die (rhetorische), auf Emanzipation und Selbstermächtigung zielende Frage: „Warum können wir nicht selbst die Schöpfer unseres Glückes sein?“