Ein Pferd irrt verloren durch die engen, morastigen Gassen eines alten Dorfes, während eine Stimme wie von fern und fast schon murmelnd sich unter die aufsteigende Geräuschkulisse legt. Sie gehört Jakob Adam Simon (Jan Dieter Schneider), dem jüngsten Sohn des Dorfschmieds, der sich mit seiner Lektüre in ferne Länder träumt und darüber die Arbeit vergisst. Von seinem strengen Vater wird er dafür drangsaliert und verflucht, weil die Nöte des Lebens ein anderes Tun verlangen. Jakob gilt ihm deshalb als Faulpelz und Nichtsnutz, der dem Müßiggang frönt. Unverstanden von seiner Umgebung, zieht sich der Tagträumer immer wieder in die Waldeinsamkeit zurück, um zu lesen oder von hoch oben einem langen Treck von Auswanderern nachzublicken. Denn wir schreiben das Jahr 1842 und wie überall im Land herrschen auch in dem fiktiven Hunsrücker Dorf Schabbach Armut und Not, Unterdrückung und Ausbeutung.
In der Nacht zum 1. April beginnt Jakob im Schein einer Kerze heimlich mit der Niederschrift seines Tagebuchs, jener „Chronik einer Sehnsucht“, die im Verlauf von Edgar Reitz‘ fast vierstündigem Film „Die andere Heimat“ zu einem „Bericht verlorener Träume“ wird. Als Seelenverwandter der Romantiker, der mehrere Fremdsprachen beherrscht und sich besonders nach den Indianern in der neuen Welt sehnt, notiert der Außenseiter, nur der „Stimme des Herzens“ folgen zu wollen, denn allein das im Herzen gespeicherte Wissen könne nicht verlorengehen. Im heraufziehenden Vormärz sympathisiert Jakob aber auch mit den Idealen der Freiheit, diesem „heiligen Recht in uns“. Einmal sieht man ihn auf einer Floßfahrt mit aufrührerischen Studenten auf der Mosel, bei der er angeschossen wird; ein anderes Mal, am Ende einer feucht-fröhlich-revolutionären Kerwe, landet er mit einem Gesinnungsgenossen im Kerker.
Edgar Reitz verbindet diese romantisch-freiheitlichen Motive, in denen sich Fernweh und Aufbruch spiegeln, mit einem detaillierten Zeit- und Gesellschaftsbild, in das, vom Kometenschweif des Jahres 1843 unheilvoll illuminiert, nicht zuletzt kosmische Kräfte eindringen. „Alles ist aus dem Lot“ konstatiert ahnungsvoll der Arzt im „Unglückswinter“ desselben Jahres, als eine schwere Diphterie-Epidemie vielen Kindern das Leben raubt. „Besseres als den Tod findet man überall“, sagen diejenigen, die gewillt sind, die Heimat für immer zu verlassen. In Cinemascope und strahlendem Schwarzweiß, mit sehr plastischen Bildern und wenigen, herausgehobenen Farbtupfern zeigt Reitz ebenso sinnlich wie poetisch, was diese Heimat ist: Armut, Frömmigkeit und dörfliche Gemeinschaft durch alle Nöte hindurch, aber auch die Arbeit der Hände und die Ernte, Liebe und Enttäuschung, umfasst und gerahmt vom Werden und Vergehen sowohl im Großen wie im Kleinen. „Des Menschen Natur ist es, Abschied zu nehmen“, schreibt Jakob in sein Tagebuch über jene stetige Sehnsuchtsangst nach einer anderen Welt. Doch in seiner Geschichte eines verhinderten Aufbruchs werden schließlich das Dableiben und das Festhalten an der Wissenschaft zur (geistigen) Heimat.