Wer beim TV-Event a.k.a. Spielfilm-Imitat „Die Wanderhure“ etwas Durchhaltevermögen gezeigt hat, konnte auf halber Strecke zusammen mit einem Millionenpublikum vor den Fernsehapparaten einen kurzen, unspektakulären Auftritt von Heiko Pinkowski bewundern. Dass Pinkowskis Figur ein fieser Typ sein muss, ist dabei schon klar, bevor er sich an der mittelalterlichen Powerfrau Alexandra Neldel vergreifen darf. Denn in der Welt der Wanderhure sind die fiesen Typen wahlweise durch schlecht sitzende Frisuren oder – wie Pinkowski – durch einen erhöhten Körperfettanteil sichtbar als solche markiert, während sich die netten Kerle durch haarlose Sixpacks und multidimensional glänzendes Kopfhaar auszeichnen. Raum für Brüche, Mehrdeutigkeiten oder eigene Gedanken bleibt da kaum, die Kacke, die einem hier serviert wird (ästhetisch, ideologisch etc.), bekommt man auch noch vorgekaut.
Aktuell blickt Pinkowski zusammen mit seinem Kollegen Peter Trabner vom Filmplakat zu Axel Ranischs No-Budget-Film „Dicke Mädchen“, immer noch korpulent, aber im Gegensatz zum züchtigen Hurenfilm nicht mit nackter Haut geizend und auch nicht ganz hetero. Wo man über die Qualitäten des Filmtitels und das betont skurrile Plakat mit seinen zwei dicken Nackten und der von oben durchs Bild wirbelnden Oma noch streiten kann, da entpuppt sich der Film dazu zweifelsfrei als eine der unterhaltsamsten und interessantesten deutschen Produktionen der letzten Jahre.
Die Geschichte um Sven, der mit seiner dementen Mutter Edeltraut in einem Berliner Plattenbau wohnt und sich in deren Pfleger Daniel verliebt, fängt Regisseur, Ton- und Kameramann in Personalunion Axel Ranisch mit einer Mini-DV-Kamera ein. Dabei zeigt er sich an Situationen, die seinen Darstellern Raum zur Improvisation geben, interessierter als an einer konventionellen, vom Drehbuch diktierten Dramaturgie. So entsteht eine Reihe locker verknüpfter Episoden und Performances, die von überbordender Clownerei über einen betörenden Boléro im Wohnzimmer bis zur lakonischen Alltagsbeobachtung reichen. Auch ästhetisch ist „Dicke Mädchen“ eigenwillig: Von Anfang an stellt Ranisch dem unvermeidlichen Sozialdrama-Look seiner verwackelten Bilder von der farblosen Wohnung einen ironisierenden Soundtrack entgegen und auch der Vergleich mit einem Home-Video will nicht ganz aufgehen: Dafür sind viele Einstellungen bei allem Understatement und trotz der billigen Produktionsweise doch zu kunstvoll, der Schnitt zu gekonnt.
Spannend an „Dicke Mädchen“ ist aber vor allem, dass hier eine Menge Sachen, die man aus anderen Filmen oder auch Serien und der Werbung zur Genüge kennt, gar nicht oder anders gemacht werden. Das ist wohl am auffälligsten bei der Inszenierung des Dickseins: Ebenso weit entfernt von der vollkommenen Fiktionalität der Fatsuit-Fantasien wie vom anbiedernden Authentitzitätsversprechen einer Dove-Werbung, präsentiert Ranisch Körper von Gewicht, die immer mehr sind als ein visueller Gag oder bedeutungsschwanger herumgetragene Bäuche. Das Körperfett der Protagonisten (wie auch Krankheit und Tod) ist in „Dicke Mädchen“ nicht sonderlich sinnstiftend oder schales plot device, es ist einfach da, beim Tanz, beim Spiel, beim Kampf und erzählt ganz eigene Geschichten, die es zu entdecken gilt.
Überhaupt ist „Dicke Mädchen“ ein Film, der durch seine Offenheit zu Entdeckungen einlädt und das Aufbrechen von dem Runterbrechen auf Bedeutung vorzieht. Da weist Daniel beispielsweise einen Kuss von Sven in der Öffentlichkeit zurück, aber es bleibt offen, warum er das tut. Weil es ein schwuler Kuss ist? Weil Daniel Ehefrau und Sohn hat? Aus einem völlig anderen Grund? Der bisweilen etwas überstrapazierte Begriff des Queeren ist durchaus treffend, um das vieldeutige Spiel mit Identitäten, die sich in Ranischs Film immer wieder als flüchtig und provisorisch erweisen, zu beschreiben. Abseits vom manchmal monotonen radikalen Chic vieler als queer gelabelter Produktionen und deren Fixierung auf junge, schlanke Körper gelingt Ranisch mit „Dicke Mädchen“ nicht nur ein komplexer und eigensinniger Film, sondern auch ein Stück queeres Kino, das sich nicht in der Thematisierung von Homosexualität erschöpft und am Ende weit mehr zu bieten hat als dicke Mädchen.
[Interview mit Regisseur Axel Ranisch]
[Link zu einer weiteren Filmkritik]