Ein grauer Tag bricht an in der mexikanischen Industriemetropole Guadalajara. Zur morgendlichen Routine der schweigsamen und selten lächelnden Protagonistin Claudia gehört neben dem Sich-aus-dem-Bett-quälen auch das Sortieren von bunten Cornflakes-Kringeln: Die violetten werden behutsam aus der Milch gefischt und fein säuberlich auf dem Kopfkissen drapiert, während der Rest der eingefärbten Zuckerflocken getrost gegessen werden kann. Eine komische Person also, diese Claudia, die mit ihrer neurotischen Verhaltensauffälligkeit im Kino gut aufgehoben zu sein scheint – als Heldin auf der Leinwand und wohl ebenso im Zuschauersaal.
Irritierender als die Marotte an sich ist da schon der Ton, in dem „Der wundersame Katzenfisch“ seine Hauptfigur und deren merkwürdige Rituale einführt. Denn hier werden nicht mit einer penibel abgestimmten Farbpalette und symmetrischer Strenge liebenswerte Verschrobenheiten vorgeführt, wie es (nicht bloß) im US-amerikanische Independentkino seit Wes Anderson mit ermüdender Beharrlichkeit geschieht. Statt eine humorvolle Distanz zu wahren, wagt sich die zitternde Handkamera in Claudia Sainte-Luces Debütfilm ganz nah ran an den Körper der Protagonistin. Und von der Tonspur dröhnt dumpf und beklemmend ein tiefes, viszerales Unbehagen, das im Skurrilen stets auch ein pathologisches Moment mitschwingen lässt.
Erst nach und nach dringt auch die Außenwelt ans Ohr, das Gefühl von Stumpfsinn aber hallt noch nach. Draußen auf den Straßen blinken nervös die Neonreklamen und kitschiger Weihnachtsschmuck um die Wette, während Claudia sich auf den Weg zu der täglichen, Arbeit genannten Schikane im örtlichen Supermarkt macht. Das Radio im Bus leiert dazu irgendwas von 24 Stunden Emotionen, die mitten ins Herz gehen. Das Organ, das Claudia aber schließlich aus ihrem tristen Alltag reißt, ist ein anderes: Die Appendix vermiformis ist entzündet und mit dem pathologischen Befund beginnt dann auch eine Heilungsgeschichte, die weit über Claudias Eingeweide hinausgehen soll.
Im Krankenhaus macht die vereinsamte junge Frau nämlich eine folgenreiche Bekanntschaft. Sie lernt die an AIDS erkrankte Martha kennen und wird von der alleinerziehenden Mutter kurzerhand in deren chaotisches Familienleben integriert. Wer bei dieser schicksalhaften Ausgangssituation das Schlimmste befürchtet – sowohl für Marthas Leinwandleben als auch für den eigenen Kinobesuch –, kann zumindest teilweise entwarnt werden. Denn selbstverständlich muss Martha am Ende kurz vor dem Abspann dran glauben, aber die Regisseurin und Drehbuchautorin Sainte-Luce erzählt äußerst klug und konsequent an den lauernden Rührseligkeiten ihres Stoffes vorbei und hat auch nie so viel Respekt vor dem Tod, dass sie gleich in Ehrfurcht erstarrt und ihrem Film das ganze Leben austreibt.
Das fängt an mit der Darstellung von Marthas vier Kindern, die sich zwar hilfsbereit um die sterbende Mutter scharen und sie pflegen, sich dabei aber immer einen gesunden Egoismus bewahren und nie ihre eigenen Konflikte aus den Augen verlieren. Da wird sich noch am Krankenbett mit dem kleinen Bruder gekloppt und wenn Marthas Zweitälteste die Nacht an der Seite der Mutter verbringen soll, anstatt auf eine Party zu gehen, zieht sie auch das entsprechende Gesicht. Mit kräftigen Strichen skizziert Sainte-Luce diesen Familienkosmos und bedient dafür auch so manches Klischee, zeigt konsumgeile Teenager, missgünstige Chefinnen und verfressene Dicke.
Effizient erzählt der Film so seine im Kern simple und straighte Geschichte und nutzt seine Ressourcen dann lieber, um immer wieder abzuschweifen und sich in kleinen Episoden zu verlieren. Dass dabei vieles nur angerissen wird, stört nicht, denn gerade in der Auslassung beschwört Sainte-Luce auf eindrucksvolle Weise die Fülle ihres filmischen Universums. Beinahe wie eine Geste der Bescheidenheit wirkt es da, wenn Kamerafrau Agnès Godard sich gemeinsam mit Claudia und einer Handkamera zum ersten Mal in Marthas Zuhause wagt und versucht in einer langen Einstellung möglichst viel von dem lebhaften Treiben aufzuschnappen. Schnell wirkt nicht nur Claudia, sondern auch die Filmkamera verloren im Angesicht dieser Dynamik, die über falschen Pathos und Pointen einfach hinwegfegt.
Dass es in der Realität eh nicht läuft wie im Kino, diese Erfahrung macht auch Martha. Eigentlich hatte sie ja geplant, dass ihre Asche am Meer verstreut wird, so wie sie das in den Filmen gesehen hat. Aber der eigene Trip zum Strand lässt diesen Traum schnell platzen, die Widerhaken der Realität bohren sich ins Fleisch: Die eine Tochter wird von einer Qualle gestochen, der Sohn von einer Biene, eine andere Tochter tritt in eine Glasscherbe und dann kommt Martha auch schon das Kotzen und sie muss zurück ins Krankenhaus. Eine Ode an das Leben sieht anders aus, Sainte-Luces Film ist dann eher ein Haiku über KFZ-Versicherungen, Stiche, Scherben und die guten Chips in der grünen Tüte.