Vanessa Lapas deutsch-österreichisch-israelisch koproduzierter Dokumentarfilm über den Reichsführer SS Heinrich Himmler heißt 'Der Anständige'. Dieser Titel bezieht sich auf eine Passage in Himmlers notorischer 'Posener Rede' vom Herbst 1943 (die am Filmende auch in verrauschtem O-Ton erklingt): Darin bescheinigte er zahreichen versammelten SS-Granden, sie und er seien bei all dem nervenzehrenden und kräfteraubenden Judentöten doch stets anständig geblieben (und dieser Anstand bei einer quasi heiklen Aufgabe sei, so Himmler weiter, 'ein niemals zu nennendes Ruhmesblatt').
Hier verkehrt sich Anstand in ein Gegenteil, in Mordgier; dieser wiederum verleiht der Anstand die Ordentlichkeit, die Routine auch, die die vernichtungsrassistische Mordgier braucht, um zu einem Projekt im Maßstab der von den Nazis dimensionierten Größe und Dauer zu werden. Die Eigenschaft, anständig zu sein, ist, mehr als andere Wertungen von Haltung und Verhalten im menschlich-sozialen Zusammenleben, ziemlich ruiniert, was ihre Brauchbarkeit zu eindeutigen Bestimmungen betrifft; sie fängt sofort – wie mensch heute so sagt – zu 'schillern' an. Das liegt zum einen an den Wortkorrumpierungen, die der Nazismus und sein Nachwirken uns hinterlässt (um nur drei Merkwürdigkeiten zu nennen: von den angeblichen Worten Hermann Görings bei seiner Festnahme durch US-Truppen 1945 'Wenigstens zwölf Jahre anständig gelebt' bis zum terminologisch nicht zimperlichen Reden von der Einteilbarkeit der 'damals' handelnden Menschen in die 'Rasse der Anständigen' und die 'Rasse der Unanständigen', wie es im österreichischen Hinweg-Moralpsychologisieren der landesspezifischen Nazi-Vergangenheit in den späten 1980er Jahren gängig war – zu genau der Zeit, als jener Bundespräsidentschaftskandidat Kurt Waldheim, später als Staatsoberhaupt in Wien zurecht isoliert, sich auf seine 'Pflichterfüllung' bei der Wehrmacht (und der Reiter-SA) berief, den später Helmut Kohl in seinen jüngst erschienenen Erinnerungen als einen 'anständigen Mann' bezeichnete, 'der viel zu feige war, um unanständig zu sein'. Zum anderen liegt das semantisch Unbeständige des Anständigen am kontinuierlichen Absinken der Rhetorik von Anständigkeitsmoral in Bereiche des Nicht-ganz-erlaubt-Sexuellen oder Alltagsobszönen, so wie wir einen schlüpfrigen Witz oder manche der von o.g. Kohl memorial verwendeten Kraftausdrücke als 'unanständig' bezeichnen (bzw. tun wir das, sofern wir schon ein bissi älter und halt immer noch manchmal bissi 'unanständig' sind).
In dieses Mehrdeutigkeitsfeld der Anständigkeit begibt sich der Film 'Der Anständige' beherzt, und in mindestens zweierlei Sinn nimmt er die Anständigkeit beim Wort, also in ihrer stets zum Umkippen von Bedeutung bereiten Buchstäblichkeit. Zum einen wird hier ein Mordsspießer anhand und durch Selbstzeugnisse aus jüngst gefundenen Tagebüchern und Familienbriefwechseln, zumal dem Briefwechsel mit seiner Frau, porträtiert. Das liebessehnsüchtige Geturtel des jungen, aber bereits mit dem Aufbau der NSDAP-Schutzstaffel-Elite sehr gestressten, Himmler mit seiner Gemahlin versetzt uns sofort in den schwülstigen Kernbestand des 'Unanständigen': 'Du Schlingel!' und 'Du böser, böser Mann' schreibt Frau Himmler ihrem Heini und was der gurrenden Schlüpfrigkeiten mehr sind, von denen wir vielleicht gar nicht so genau wissen wollten. Etwas später sorgen die Himmlers sich dann etwa über Unanständigkeiten ihres ins schulpflichtige Alter kommenden Ziehsohnes, der halt immer so viel lügt. Herr Mörder und Frau Gemahlin – auch ihre Briefe und Tagebuch schreibende Tochter, dazwischen zweimal Himmlers Vater, der seinen befehlsgewaltigen Sohn mit Bittgesuchen für von seiner Polizei verfolgte Bekannte behelligt – werden beim Wort genommen. Im Bild dazu sehen wir, chronologisch nach Kapiteln geordnet von der Kaiserzeit bis zum Suizid des Reichsführers 1945, Filmaufnahmen und Fotos von Himmler und den Seinen. Vieles ist aus den Highlights des Geschichtsfernsehens bekannt, manche Privatfotos muten noch ungesehen an.
In der Inszenierung seines Materials verfährt 'Der Anständige' allzu anständig – allzu folgsam und brav im quasi Auf-Punkt-und-Beistrich-Einhalten und Ausführen von Konventionen, die sich ebenfalls im Geschichtsfernsehen der letzten Jahrzehnte aufgehäuft haben: Das reicht vom 'Archivtrick' – der suggeriert, das hier nun endlich Enthüllte sei irre geschichtswichtig und mache uns als Zusehende zu mehr-wissenden Eingeweihten – über das Vertonen und Midiklavierverkleistern von Filmmaterial (damit der Erste Weltkrieg knallt und auch sonst die Stimmung stimmt) und das dramatisierende Abzoomen von Fotos ('Ken Burns'-Effekt heißt das, nach einem US-Geschichtsfernsehzampano) bis zum Luftdichtverschluss von Bild-Ton-Beziehungen. Letzterer, der auch ja keinen Gedanken durchlässt, wird mal illustrativ hergestellt: Der junge Student Himmler vertraut seinem Tagebuch seinen Tanz mit einem 'Judenmädel' an, dazu sehen wir passende Bilder von irgendeiner Bierlokaltanzerei so circa 1920 (oder 1922, was soll‘s); der gleich junge Himmler, etwas geknickt darüber, 'noch nie poussiert' zu haben, ergeht sich in Schwärmereien über nordische Maiden, dazu Bilder von BdM-Formationen bei der Gymnastik, circa zehn Jahre später; Berlin 1930 – wir hören Marlene Dietrich singen. Aber auch Ironie im Verhältnis des Bildes zum Ton, vielmehr: zum Wort, ist hier eine Form, Lückenlosigkeit zu erzielen, so etwa wenn nackte SS-Männer zu sehen und dazu homophobe Tiraden ihres Chefs zu hören sind.
Die Quasi-Anständigkeit im Durchexerzieren des Konventionellen, das heißt ja heutzutage, dass eine Geschichtsfernsehminiserie oder Doku – bzw. dass diese Doku – eben so kess und pfiffig daherkommt, wie es im Jahr drei nach Knopp vorschriftsmäßig gefordert ist: Der hier erhobene Anständigkeitsvorwurf geht nicht dahin, der Film sei zu altbacken oder fad, sondern gilt seiner Bravheit gerade auch beim Gewitzt-Sein.
'Besuch im KZ Dachau: ein sehr großer Betrieb', schreibt die Tochter um 1942. Sehr großer Betrieb herrscht auch beim Herrn Papa; all der Todeslagerinspektionsstress schlägt ihm auf den Bauch: ,,Diese Darmgeschichten sind doch sehr eklig,' schreibt Heini himself. Ein Schelm, wer da – als ein Echo des Hannah Arendt-Worts über den (unterstellten) Bürokratismus Adolf Eichmanns – an die schiere Analität des Bösen denkt.
Tägliche Sorge ums Leibliche in sich und in der Familie, tödliche Sorge ums Blut im Volk: Diesen Konnex als ideologischen Kern einer spezifisch nationalsozialistischen Biopolitik herauszuarbeiten, hätte Sinn gemacht, hätte dem Film gutgetan, hätte der Inszenierung von 'Der Anständige' eigentlich auch kaum Schwierigkeiten gemacht; dies deshalb, weil sie die Engführung der Durchsetzungen von Anstand im Alltag, Wohlstand im Reich und Massenmord an jüdischen und slawischen Bevölkerungen ohnehin stets einprägsam forciert. Jedoch: zu welchem Ende? Also, zu welchem Zweck, und wo geht das hin? Anstelle der Bild-Werdung von Politik (ihrer Analytik wie auch Sinnfällig-, Sinnlich-, Einsichtig-Machung) wird hier – wie auch sonst in Geschichtsmedialisierungen von 'Der Untergang' über 'Die Enkelinnen der Männer des 20. Juli' bis zur Frage, wie es denn Leuten heute so geht, die sich ihren Nachnamen mit Nazi-Größen teilen, oder wie gelungen Erfolgsarchitekt Albert Speer Junior einige der Reichskanzlei-Innenhöfe aus der Planungsfeder von Erfolgsarchitekt Albert Speer Senior heute findet – wird also in 'Der Anständige' Familie zur Universalkategorie von Geschichtserfahrung. Familie nicht als eine Konstruktion, die Feudalstaaten so, bürgerliche Kapitaldemokratien so und Nazis nochmal anders einrichten, sondern als eine anthropologisch schlichtweg gegebene Kontrastfolie zu all dem Irrsinn, den Schlingel Heinrich anrichtet.
Dass am Ende von 'Der Anständige' wenig mehr als Gänsehaut, Fremdschämen, Kopfschütteln und manch herzliches Lachen übrigbleibt – und zwar gut fünfzehn Jahre nachdem Romuald Karmakar für sein 'Himmler-Projekt' den Schauspieler Manfred Zapatka im Rollkragenpulli die komplette 'Posener Rede' nüchtern, weder brechtisch noch faustisch noch ganzlich, vom Blatt lesen ließ und ihn dabei filmte: ein deutscher Text zu österreichisch anständig mitgemachtem Morden in seiner Entfaltung als Fläche, Zeit, Scape, Bild, Erfahrung – dass also das so ist, das liegt nicht zuletzt daran, wie hier das Zugleich von Töten, Turteln und Tochterhätscheln im unbeschwerten Intonieren/Ironisieren der Haupt-Himmlerstimmen (Er: Tobias Moretti, Sie: Sophie Rois) als psychologisches Kuriosum zerblödelt wird.