„Defamation“, preisgekrönt auf diversen Festivals und mit vielen positiven Kritiken bedacht, ist ein Film mit besten Absichten: Sein israelischer Regisseur, Yoav Shamir, macht sich zu Beginn als Personifikation der reinen Naivität mit seiner Handkamera und begleitet von putziger Musik auf den Weg, um wortwörtlich den Antisemitismus zu suchen. Er sei ihm selbst schließlich nie begegnet und wundere sich, dass er dennoch so allgegenwärtig sei. Gut neunzig Minuten später, am Ende der Reise, werden wir sehen, wie eine Schulklasse aus Israel die ehemaligen Konzentrationslager von Auschwitz und Majdanek besucht und einige der Schüler beim Anblick der dort ausgestellten Schuhe tausender Häftlinge und Ermordeter in Tränen ausbrechen. Ein Mädchen wird dort, überwältigt von seinen Gefühlen, sagen, dass es den Feinden des jüdischen Volkes und Israels bis auf den heutigen Tag den Tod wünsche und Regisseur Shamir wird seine Hoffnung ausdrücken, dass diese vergangenheitszugewandte Kultur des Todes und der Schrecken eines Tages einem offenen und problemorientierten Blick für die Zukunft (gemeint ist freilich der Nahostkonflikt) weichen werde. Mit einem klugen, einem großartigen Bild schließt der Film: ein sich ankündigender Sonnenaufgang, in den schwarz-drohend, aber dennoch klein die Stacheldrahtzäune des ehemaligen Konzentrationslagers hineinragen.
Einen weiten Weg ist der Wanderer mit der Kamera also bis hierhin gegangen. Nicht nur räumlich, sondern auch thematisch: Von der Suche nach Zeichen des Antisemitismus im Alltag ist er unvermeidlich beim Nahostkonflikt angelangt und gibt uns schließlich noch eine Lektion in Erinnerungskultur und Vergangenheitsbewältigung obendrein. So weit, so gut, möchte man denken und wenn man gar nicht erst anfangen will mit der in Deutschland spätestens seit dem Historikerstreit der 1980er-Jahre auf breiter Front geführten „Schlussstrichdebatte“, dann könnte man in der Tat von einer nicht unsinnigen Meinung des Regisseurs sprechen. Etwas zu kurz gedacht vielleicht, alles etwas knapp, aber sicherlich nicht verwerflich. Es liegen jedoch zwischen Anfang und Ende der Reise rund neunzig Minuten Film, während derer beim Betrachter die Augen und Ohren immer größer werden – ein Zustand, der sich schließlich in ungläubiges Staunen steigern wird.
Denn mit dem Moment, da der Film vermittels der Kommentare des Regisseurs und seiner zahlreichen, gegen- und ineinander geschnittenen Interviews zu „sprechen“ anfängt, beginnt man sich stark zu wundern, ob die hier ostentativ zur Schau gestellte Naivität des Unterfangens eine authentische ist. Gleich zu Beginn der Reise trifft Shamir im New Yorker Büro der Anti-Defamation League (ADL) ein, wo der oft streitbare Präsident der Organisation, Abraham Foxman, zu einer zentralen und den Film durchziehenden Figur wird. Foxman und seine Kollegen weisen Shamir auf eine Reihe von antisemitischen Vorfällen der vergangenen Wochen hin, die sich – in der Darstellung des Films – als wenig handfest herausstellen. Ein Polizist bezeichnet eine jüdische Beerdigung als „jewish shit“: eine Bagatelle. Ein Schulbus mit jüdischen Kindern soll mit Steinen beworfen worden sein: in Wahrheit wohl alles weniger drastisch, als gedacht. Ein New Yorker Rabbi wird sagen, dass er Leuten misstraue, die ihr Geld mit dem Vorwurf des Antisemitismus verdienten und dass die ADL in vielen Gegenden mindestens so viel Schaden angerichtet habe, wie sie hilfreich gewesen sei. In einer dieser Gegenden wird dann ein Mann auf der Straße ausführlich und nur unter moderatem Widerspruch des Regisseurs über die „Protokolle der Weisen von Zion“ sprechen dürfen und auch erklären, dass er sich als Schwarzer bisweilen gerade von den Juden im Viertel bedroht fühle. Und schließlich wird dort auch Uri Avnery im Rahmen einer Konferenz in Israel vor dem Regisseur sitzen und das aussprechen, was – und dessen war man sich bis zu diesem Zeitpunkt mit immer größerem Unbehagen gewahr geworden – der Film uns doch eigentlich schon eine ganze Weile lang suggerieren wollte: Der Antisemitismus ist eine Erfindung der Juden. Avnery sagt das so. Wörtlich (zumindest, wenn die englischen Untertitel sein Hebräisch korrekt wiedergeben) und vor laufender Kamera. Joseph Goebbels‘ berüchtigtem „Mimikry“-Aufsatz von 1941, in dem auch beschrieben wird, wie Moskauer Juden Meldungen über Gräueltaten erfänden und Londoner Juden diese bereitwillig fortspännen, wird hier, fast siebzig Jahre nach seinem Erscheinen, Genüge getan.
Man möchte diese Äußerung in Avnerys Fall als Gedankenlosigkeit eines verdienten, sehr alten Mannes abtun. Allein, man schafft es nicht ganz, und Shamirs Film könnte diese Nachsicht auch deshalb schon nicht entlasten, weil rund um jenes Zitat die Ernährer des „Neuen Antisemitismus“ permanent wortreich durchs Bild laufen: Da sind die amerikanischen Professoren John Mearsheimer und Stephen Walt, deren Buch, „The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy“, die alte Geschichte vom übergroßen Einfluss der Juden auf die Schaltzentralen der Macht für das US-Außenministerium stark machen will, und da ist auch Norman Finkelstein, der inzwischen wie ein armer Irrer durch die Korridore seines Appartementhauses rennt, aus Provokationslust den Hitlergruß in die Kamera zeigt, in einer einzigen schrillen Schreierei Abraham Foxman als „schlimmer als Hitler“ bezeichnet und auch ansonsten allerhand wirres Zeug redet. Man muss es dem Film da schon fast zugute halten, dass er Finkelstein am Ende nicht vollständig auf den Leim geht – eine reichlich große Plattform gibt er ihm dennoch.
Dass Yoah Shamir bei seiner Suche nach dem Antisemitismus gar nicht in die Welt hätte hinausziehen, sondern lediglich einmal in der virtuellen Realität von YouTube die Kommentare zu nahezu jedem x-beliebigen Video hätte lesen müssen, das sich auch nur entfernt mit Juden, dem Staat Israel oder dem Nahost-Konflikt beschäftigt, würde man ihm im Verlaufe des Films gerne manches Mal sagen. Dort, wo noch immer alle alles sagen und fast alles zeigen dürfen, hätte er auch die Videos von den Anti-Israel-Demonstrationen in Deutschland aus dem vergangenen Jahr gefunden, auf denen von „Tod Israel“, über die Schlachtrufe der Hamas, bis hin zu expliziten Morddrohungen gegenüber Juden und tätlichen Angriffen auf Menschen mit israelischen Flaggen alles dabei gewesen ist, was Shamir gerne auf den New Yorker Straßen gefunden hätte. Diesem Film aber ist in seiner manipulativen Montage, seiner verlogenen Naivität und seinen Interviews, denen man ihr Zurechtgestutztsein an allen Enden ansieht, eine Ästhetik der Relativierung, vielleicht gar der Leugnung inhärent, die ihn in jeder Hinsicht disqualifiziert.