Geht doch! Ein deutscher Kinofilm – und es ist womöglich der erste -,der sich mit dem Tagebuch schreibenden Mädchen Anne Frank, 13 Jahre alt, beschäftigt, 1942 mit ihrer Familie im Versteck in Amsterdam. Vor der Tür suchen Nazis und Kollaborateure nach Juden zum Abtransport nach Auschwitz. Gedreht ist der Film, ohne Mitwirkung quotengeiler deutscher Fernsehanstalten, von Hans Steinbichler (‚Winterreise‘), Mitte vierzig. Er vollbrachte das Wunder – scheiße, das es dafür ein Wunder brauchte -,den originalen, mehr als siebzig Jahre alten Tagebuchtext der Dreizehnjährigen gegenwartsnah und jugendaffin in Bilder umzusetzen. Flüchtlinge, Stigmatisierung und so fort. Leute, das ist hochaktuell! Und die Wirkung stellt sich ohne jede Volkspädagogik ein. Klar, es ist die unglaubliche Präsenz und Authentizität der jungen Schauspielerin Lea van Acken, deren Bild den Film ins Heute bringt. Zum Schluss werden ihr bei der Aufnahmeprozedur im KZ die Haare geschoren. Sie kommentiert das nicht, sie zeigt keine Mimik, sie bleibt in Ordnung. Das ist jetzt die Ordnung. Die deutsche KZ-Ordnung.
Um meine Eloge abzuschließen, noch ein ordentliches Lob zum Schnitt. Ganz im Gegensatz zum TV-Verfahren, Hektik durch Action-Schnitt vorzutäuschen (die fusseligen Dreisekunden-Einstellungen), nehmen sich die Einstellungen im Anne-Frank-Film die Zeit, die es braucht, um Empathie und Nachdenklichkeit zu entwickeln. – Aber jetzt höchste Zeit, zu einem Schwachpunkt zu kommen. Das ist der Einsatz von Musik (Sebastian Pille). Vom easy listening bis zur Klavierbegleitung beim ersten sexy Kuscheln im Bett legen sich die dezenten Töne wie ein Vorhang vor die Szenen, die, statt unter die Haut zu gehen, zur Illustration degradiert werden, – naja, degradiert zu werden drohen.
Aber ich bleibe dabei. Die Gesamtwirkung des Films produziert ohne Extra-Dialog Nähe zum jungen Publikum und Nähe zu denen, die heute wieder aktuell geworden sind: Flüchtlinge, Vertriebene, Ausgegrenzte, Stigmatisierte und Diskriminierte.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 3/2016