Filme, die fingiertes „Found Footage“ präsentieren, findet man seit geraumer Zeit vor allem im Horrorgenre, auch wenn gelegentlich ein origineller Superheldenfilm („Chronicle“), ein Komödienversuch über eine eskalierende Facebook-Party („Project X“) oder ein inkonsequent umgesetztes Polizeidrama („End of Watch“) dazukommen. Schade, dass ein Großteil der aufs Genre eingeschworenen Filmegucker wohl eher nicht auf „Das schlafende Mädchen“ aufmerksam werden wird, zumal das Label „Künstlerporträt“ sich für manche Ohren womöglich sogar abschreckend anhört. Dabei ist der Film alles andere als sperrig, sondern vielmehr höchst unterhaltsam und dazu eine ziemlich eindringliche Erfahrung.
„Das schlafende Mädchen“ spielt Anfang der 1970er Jahre im Umfeld der Düsseldorfer Kunstakademie und gibt sich konsequent als Videoprojekt des Beuys-Schülers Hans (Jakob Diehl) aus. Hans erforscht mit Hilfe des neuen Mediums den Raum, rückt sich immer wieder selbst ins störungsanfällige Schwarzweißbild und inszeniert sich. Er reflektiert und hinterfragt in experimentellen Sequenzen das Wesen der Kunst und diskutiert bei laufender Kamera mit seinem besten Freund Philipp (Christoph Bach) darüber. Mal ist die Kamera im Raum platziert, mal wird sie von Hans geführt, sodass seine Stimme nur aus dem Off zu hören ist. Und plötzlich entwickelt sich sogar eine Geschichte: Bei einer Aufnahme im Stadtpark gerät Ruth (Natalie Krane) ins Bild. Sie scheint im Park zu leben und weckt sofort Hans’ Interesse. Bald wird sie ihm zur Muse und zur Geliebten, zum Motiv und zum Kunstprojekt. Sie blüht dabei zunächst auf und beginnt, an der Akademie als Aktmodell zu arbeiten – was Hans freilich für keine so gute Idee hält. Auch mit Philipp versteht Ruth sich gut und sie wird immer unabhängiger von Hans, der selbst abends in der Disco nicht von seiner Arbeit, d.h. der Kamera, lassen kann. Er deutet Ruths Entwicklung als Flucht und Selbstbetrug: Für ihn soll sie doch bitteschön das verirrte Mädchen aus dem Wald bleiben und nicht zum „Glamour-Girl“ werden. Um sie in seine nicht mehr angemessene Vorstellung zu zwingen, wird Hans so manipulativ und verzehrend wie der Blick seiner Kamera, deren Einsatz längst einen obsessiven Charakter hat.
Rainer Kirberg, ehemals selbst Kunststudent in Düsseldorf, dürfte Cineasten vor allem wegen seines Films „Die letzte Rache“ (1980) ein Begriff sein, der die Ästhetik expressionistischer Stummfilme evozierte, gleichzeitig aber NDW-Stücke musicalartig in seine phantastische Erzählung einbettete – eine wohl einzigartige Begegnung. Auf den ersten Blick scheint „Das schlafende Mädchen“ visuell weniger auffällig, doch dieser Eindruck trügt. Hans, der hier an die Stelle des Filmemachers tritt, erweist sich schnell als ziemlich begabter und einfallsreicher Selbst- und Welterforscher – mit dem entsprechenden Hang zum Wahnsinn. Das Material hat er, so suggerieren achronologische Montagen später, zumindest zum Teil bereits in seinem Sinn arrangiert. Die Kamera entpuppt sich dabei auch als Machtinstrument eines autoritären Charakters, sodass neben zärtlichen und komischen Momenten dann doch auch der Horror ins Spiel kommt, wenn die Beziehung zu Ruth sich zwischenzeitlich zum grausamen Zweikampf entwickelt. Mit scheinbarer Leichtigkeit balanciert der Film die verschiedenen Elemente seiner Erzählung. So wird das fiktive Video-Relikt und Zeitdokument zum Künstler- und Kunstporträt und gleichermaßen zur Geschichte einer Amour Fou.
„Das schlafende Mädchen“, der bereits auf der Berlinale 2011 zu sehen war, ist ein ungewöhnlicher, bereichernder Film, der trotz seiner radikalen Form nie aufdringlich konstruiert wirkt, und der – obwohl potenziell lehrreich – nie didaktisch daher kommt. Dass die Figuren eindringlich, aber stets mit dem nötigen Maß gespielt werden und hier nichts manieriert oder affektiert wirkt, ist auch keine Selbstverständlichkeit. Gewiss einer der interessantesten deutschen Filme, die dieses Jahr zu sehen sein werden – in viel zu wenigen Kinos.