Was man heute eine “Coming-Of-Age”-Geschichte nennt, nannte man früher noch eher Entwicklungs- oder Bildungsroman, und war dann auch eher kein Film, sondern Buch. Da in der Moderne sich die Auffassung breitmachte, dass die Umstände schon so definitorisch seien, dass an „Entwicklung“ oder „Entwicklungsspielraum“ kaum mehr zu denken sei, machte sich das literarische Modell des Entwicklungsromans eher rar, machte anderen, temporären, deskriptiveren Formen („Short Story“) Platz, und erschien selbst wenn, dann eher nur mehr in paradoxer Gestalt. In „Die Blechtrommel“ etwa ist das Subjekt ein Kind, das, angesichts einer vernunftlosen Welt, nicht wachsen – also nicht erwachsen werden – möchte. Für „Harry Potter“ muss direkt und gleich eine abenteuerliche Parallelwelt geschaffen werden, in der es noch so was wie eine „Schule des Lebens“ gibt, in der er überhaupt noch wachsen, also aufsteigen und reifen kann.
Parallel zu dieser verkümmerten „großen“ Form der Entwicklungsgeschichte koexistiert aber natürlich auch seit Jahrzehnten schon die kleine, unauffälligere und unprätentiösere Version des so genannten Coming-of-Age-Films, bei dem es, wie in der Literatur auch, ums Erwachsenwerden geht, mit dem Unterschied, dass dieser Prozess, da er bezeichnenderweise auf das Körperliche (wenn schon das Geistige nicht wirklich mehr entwicklungsfähig ist) i.e. das Sexuelle, reduziert ist, oftmals mit dem ersten Geschlechtsverkehr vollendet und der Film vorbei ist (Filme, wie z.B. die „American Pie“-Serie könnte man ja eher „Coming Of Sperm“- Filme nennen) und wenn er dabei gesellschaftliche Wirklichkeit touchiert hat, kann man ja schon von Glück sagen.
Erwachsenwerdenfilme beschäftigen sich also heute meistens nur mit der Frage, wie das mit dem Sex funktioniert und doch sehr selten damit, wie man eigentlich mit und in dieser komischen Welt leben oder überleben kann, ohne dabei sich oder seine Träume zu verraten. Oft geht diese populäre Sinnsuche-Spielart des Coming of Age ja dann bis ins Rentenalter weiter („Desperate Housewifes“, „Sex and the City“).
Der ungarische-deutsche Film „Das große Heft“ ist da noch aus anderem Holz geschnitzt. Als Verfilmung des mehrfach ausgezeichneten, gleichnamigen Romans von Ágota Kristóf ist sein Thema der große Weltentwurf ex negativo, aus der unbestechlichen Sicht eines unbenannten Zwillingsbrüderpaars, das, zunächst in bildungsbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, zum Schutz vor einem (ja, irgendwie dann doch dem 2. Welt-!) Krieg von der unbenannten Stadt aufs namenlose Land verbracht wird, zur ihm gänzlich unbekannten Großmutter, die, wie weiland Heidis Großvater, ein mürrisches Einsiedlerdasein fristet, vom Dorf als Hexe verschrien, und die ihre eigenen Enkel als „Hundesöhne“ bezeichnet und sie entsprechend behandelt.
Der dem vorherigen Wohlstand abgewonnene Firnis von Kultur und humanistischer Lebensart ist mit Beginn des Krieges weggespült; bei der Großmutter herrscht das ungeschminkte Prinzip von Überleben oder Sterben. Nur ein elterliches kulturelles Relikt und Vermächtnis ragt noch in diesen Rückfall in die Barbarei: ein großes leeres Schreibheft und der Auftrag, darin die „Dinge so festzuhalten, wie sie wirklich waren“ bzw. sind. So werden die Zwillinge selbst zu den Chronisten ihres Lebens, und damit der Härte des Lebens in ihrer Zeit und damit des Krieges und damit zur Kernthese des Films/Romans, die sich etwa wie folgt zusammenfassen lässt: Menschlichkeit und Nächstenliebe und alle teuer gehandelten moralischen Werte sind nur Lug und Trug in unserer anscheinend so hoch entwickelten Gesellschaft und überleben kann nur, wer sich illusionslos auf diese Tatsache einstellt. Der Clou der Geschichte aber ist nicht nur die Erkenntnis, dass die Welt eine grausame ist, sondern die Stilisierung dieser Erkenntnis zur neuen Maxime moralischen Handelns.
Was nun vermutlich im Roman (den der Autor dieser Zeilen nicht kennt), da wortreicher als der Film, ausbuchstabiert sein mag, versucht der Film mit drastischen Bildern (die Jungen, um sich gegen die täglichen Schläge der Großmutter zu immunisieren, schlagen und halten sich gegenseitig solange die Backe hin, bis die Schmerzen nicht mehr ihr Inneres erreichen; da das Töten ein notwendiges Mittel zum Überleben bedeutet, üben sie sich im Erlegen von Tieren und sie üben sich im Erdulden von Hunger und Kälte, damit ihre Würde nicht mehr durch diese physischen Widersacher gebrochen werden kann) auszugleichen und zu evozieren: Das Erwachsenwerden als Ab- bzw. Verhärten, aber – vielleicht ist es dem Schreiben des „Großen Hefts“ geschuldet – auch als Entwicklung zu einer Ehrlichkeit bzw. Wahrhaftigkeit, die die Eltern trotz aller guten Umgangsformen niemals praktizierten, schließlich ein Über-das-stumpfe-Agieren-und-Reagieren-Hinauswachsen zu einer echten Autonomie.
Und so hat sie die “Schule des (grausamen) Lebens“, als sie ihre Mutter endlich abholen will, näher zu ihrer grausamen, aber dabei ehrlichen und darin verlässlichen Großmutter gebracht, und auch der Vater entpuppt sich am Ende als lieb- und würdeloser Egoist. Quod erat demonstrandum!
Vermutlich kann die Lektüre des Romans mehr Licht in ein paar Entwicklungsschritte bringen, die der Film eher andeutet, aber der Film von Regisseur János Szász wurde mit spürbar viel Hingabe (Kamera: Christian Berger („Das weiße Band“)) zum Stoff erarbeitet. „Das große Heft“ ist ein überzeugender, atmosphärischer Film, der stilistisch ein wenig klassisch wirkt, was ihm zum Vorteil gereicht, denn gemeint ist hier, dass ihn das in die Nähe von Film-Klassikern versetzt, weniger, dass er altmodisch wirkt, wenn auch ein unabstreitbares Bisschen. Und wenn er auch Fragen offen lässt, dann kann man ihm das deshalb gut verzeihen, weil er einen seltenen, da großen (Ent-)Wurf wagt, das Porträt einer brutalen und verlogenen Welt, eine Universalanalyse, in der, wie in jeder echten Erkenntnis, der Keim zu einem Gegengift steckt.