Christian, Ende Zwanzig, beschuldigt seinen Vater, einen wohlhabenden, saturierten Hotelier, ausgerechnet an dessen 60. Geburtstag und vor versammelter Gästeschar, ihn und seine Schwester in deren Kindheit wiederholt sexuell missbraucht zu haben. Vier Kinder haben der Hotelier Helge und seine Frau herangezogen, von denen Tochter Linda den Freitod gewählt hat. Wie ihr Zwillingsbruder Christian hat die erwachsene Linda unter Depressionen gelitten, bei ihm führten sie zu psychotherapeutischen Maßnahmen. Der Tod der Schwester brachte ihn offenbar zum Handeln.
Flatterig, als wäre der Boden unsicher wie bei einem Erdbeben, wackelt die Kamera und unsicher und angespannt trifft die Familie zum väterlichen Geburtstag im dänischen Landhotel ein. Die z.T. eher dem klassischen Thriller entlehnte Bildauswahl unterstreicht die Subjektivität. Durch die bewegliche digitale Videokamera (später auf Kinoformat aufgeblasen) jedoch wird diese Subjektivität mit neuen Perspektiven und Geschwindigkeiten ausgestattet. Teilweise wirkt ‚Das Fest‘ zwar wie ein Familienvideo, in dem wir nur manchmal tatsächlich das sehen können, was gerade interessant ist, weil der liebe Verwandte keinen Blick fürs Wesentliche hat. Selten bekommt der Zuschauer einen Überblick über die Szenerie, aber dann wird die Kamera immer wieder überraschend professionell als unterstreichendes Mittel eingesetzt. Durch seine häufig suggestiv-manipulative Oberfläche ist „Das Fest“ sogar geradezu un“dogma“tisch.
Jedes Geschwister ist mit einem Klischeechen bekleidet, aber das gibt es auch jenseits von „Derrick“, nämlich in einem Milieu, das Klischees gebraucht, um seine Wahrheiten zu verbergen. Michael ist das Enfant Terrible, der Schwache, Jüngste, der eine seelische Disbalance durch Alkoholabusus, Rohheit gegen Frau und Kinder, und ein allgemein erhöhtes Aggressionspotential kompensiert. Helene ist die Geflohene, eine Studentin der Anthropologie (ein Wort das ihrer Mutter ungern über die schmalen Lippen geht), die exotische Männer und eher die Liebe als den einen liebt. Christian hat sich schon lange nach Frankreich abgesetzt. Er ist der Stille, Sensible, und wegen seines angeknacksten, aber wachen Reflexionsvermögens auch Handlungsmotor und auslösendes Moment (wie alle Künstler und Revolutionäre). Dieses Typisierende aber beraubt keine der Figuren ihrer Lebendigkeit, und wer in einer größeren Familie aufgewachsen ist, findet in diesem „Fest“ sicherlich einiges von hohem Wiedererkennungswert.
Übrigens muss „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ Pate gestanden haben bei „Das Fest“. Alle Rahmenbedingungen sind vorhanden: Das Oberhaupt feiert seinen 60. Geburtstag, die Kinder mitsamt ihren psychischen Defiziten reisen an. Die Enthüllung einer Krankheit/Aberration des Vaters/der Kinder führt zu Eskalation und Reinigung. In beiden Fällen wird Krankheit durch Härte gegen sich und die Familie hervorgerufen. In der „Katze“ wendet sich dieser patriarchische Zynismus, zum Krebs geworden, gegen den Vater selbst und zwingt ihn, mithilfe eines Sohnes, sein Leben zu überdenken. Im „Fest“ ist die Krankheit a priori in die väterliche Person integriert, systemimmanent, schon immer hat er eine seinem Lebensstil eigene Destruktivität ausgelebt, nach außen, mittels gewohnheitsmäßiger Penetration zweier seiner Kinder, aber auch hier ist es der leidende, lebensuntüchtige Sohn, der lange Gedeckeltes thematisiert. In beiden Filmen ist die Krankheit bösartig und unheilbar, in der „Katze“ aber kann der Vater noch eine Wandlung zur Selbsterkenntnis und Läuterung, sprich Offenheit und daher Vergebung, vollziehen. Derartiges ist dem Vater im „Fest“ versagt. Sein Zynismus erscheint unveränderlich, ihm bleibt nur die soziale und familiäre Ächtung, eine Versöhnung ist im „Fest“ nicht denkbar.
Der Vater wird entmachtet. „Das Fest“ ist eigentlich die Geschichte einer Revolution, eines Tyrannen- wenn nicht -mordes, dann –sturzes, und eines Machtwechsels. Bis zuletzt schützt den Despoten sein Machtapparat, sein jüngster Sohn, einige Hotelangestellte und (natürlich) seine Logenbrüder. Der Revolutionär, Christian, wird weggeschafft, vorübergehend mundtot gemacht, aber er hat Verbündete im „Pöbel“: seine Schwester und vor allem sein Jugendfreund, jetzt Chefkoch, der, vermittelst seines Küchenpersonals aus der Kellerküche heraus subversiv agiert. Bezeichnenderweise der wenig geachtete, aber verbissendste und autoritätsgläubigste Vasall des Königs, der Sohn Michael, wird nach dessen Abdankung fast zu dessen Mörder. Die Gesellschaft (also die Geburtstagsgesellschaft) richtet ihr Fähnlein nahezu gleichgültig nach dem Wind. Sie überhört die unerhörten Vorwürfe Christians und lässt sich zur Kaffeepause oder zur Polonaise umleiten. Selbst nach dem Staatsstreich tanzt sie sorglos in die Nacht hinein, als wäre immer noch der Jubilar zu feiern. Als wär’s ein Stück von Büchner.
Thema des Films ist ein Tabu, das bis heute, wo doch angeblich alles thematisiert werden kann, nicht tiefer oder ernsthaft behandelt worden ist, kaum im Kino, im Fernsehen höchstens zum Zweck der Sensationsvermarktung. Bekannt ist, dass die Dunkelziffer bei Kindesmissbrauch in der Familie weit höher liegen muss als bei anderen Delikten, weil die häufig schwer geschädigten Opfer selbst, wenn überhaupt, oft erst nach Jahrzehnten in der Lage sind, darüber zu sprechen und meistens die passiv beteiligten Elternteile die aktiven durch ihr Schweigen schützen. Kindesmissbrauch kann man nicht mit anderen gesellschaftlich geächteten Straftaten gleichsetzen, und auch durch die hervorragende Darstellung eines durch seinen Vater geschädigten Sohnes stellt „Das Fest“ klar, warum.
Das Merkwürdigste: Der Kreis der direkt Betroffenen, der Geschwister, ist in keinem Moment in der Lage, sich über das Kernproblem der Familie, die väterlichen Misshandlungen auszutauschen. Man feiert zwar einen Sieg, aber scheut sich, das Besiegte zu bezeichnen, es zu artikulieren – kaum anders, als es vor der Revolte üblich und angeordnet war. Das ist vielleicht der schwächste Punkt des „Fests“, weil der Film dadurch an der Oberfläche der Entrüstung verharrt, aber ihre Ursache nicht ausbuchstabiert, vielleicht aber auch der authentischste und analytischste.
Denn möglicherweise handelt „Das Fest“ ja nicht nur vom Aufsehen erregenden „Outing Vatis, des Kinderschänders“, sondern auch von der Unfähigkeit der Familie (der Gesellschaft) sich mit der Phänomenologie eines psychologischen und soziologischen Backgrounds institutionalisierter Abgründigkeiten dieser Art zu befassen. Dann hätte „Das Fest“ Tiefe. Wir kennen das ja, den tief verwurzelten Hass auf „Kinderschänder“, der oftmals mit einer Lynchjustiz kokettiert – aber parallel dazu viele aufgedeckte Fälle innerhalb der „besten Familien“ und die allgemein ungeklärte Frage, wie es dazu kommen kann. Christian sagt zu seinem Vater: „Ich habe nie verstanden, wieso du es getan hast.“ Dessen Antwort „Ihr wart nicht mehr wert.“ ist immerhin ein Erklärungsansatz: Verachtung, und natürlich nicht zu viel, sondern zu wenig Liebe…
Neu in der Filmgeschichte ist (nach meinem Kenntnisstand) die Personalunion des bürgerlichen, klassischen Patriarchen, der vor allem von den 68-ern und deren Filmen ausgiebig bekämpft worden ist (sein Revival ist ein Kuriosum des 90-er-Jahre-Films), mit dem Sexualtäter, die Ergänzung psychischer Druckmittel mit früher sexueller Demütigungspraxis – als Erziehungsmethode. Vorsichtig sage ich: Dieser Aspekt ist interessant, umso interessanter, wird er – und dadurch ein (un)bewusster Teil der in Europa praktizierten „Pädagogik“ – im Licht jener hohen Dunkelziffer.