Wird aufgrund von Facebook-, Wikileaks-, Bin Laden-, Irak-, und vieler anderer Bearbeitungen noch mit Besorgnis die Geschwindigkeit reflektiert, mit der die Traumfabrik die Realgeschichte tapeziert, so demonstriert im Falle von „Cerro Torre“ ein Blick auf die Filmgeschichte, dass die Realgeschichte den Ideen doch eigentlich hinterherhinkt, und dass es die Ideengerüste sind, die wir beklebt sehen wollen: „Nach einer Idee von Reinhold Messner“ erzählte Werner Herzog 1991 von einem Alpinisten und einem Sportkletterer, die um den Schneepilz des Cerro Torre in Patagonien rivalisieren – eine Parabel auf die Frage, ob sich das Wettkampfklettern an Plastikgriffen auf die ganz großen Felsen übertragen lässt (anstatt sich an denen mit geschlagenen und gebohrten Haken hochzuziehen). Unter dem gleichen Titel mit anderem Zusatz hat sich Red Bull (what else?) dieser Frage jetzt im Dokumentarfilm angenommen. Hieß Cerro Torre 1 noch „Schrei aus Stein“, lautet der Untertitel zu Cerro Torre 2 „A Snowball’s Chance in Hell“ nach einer nicht so wohlwollenden, dafür sehr rätselhaften Aussage der Koryphäe Jim Bridwell – man möchte meinen, wenn in der weißen Hölle Patagoniens etwas eine Chance hat, dann sind es Schneebälle. Wahrscheinlich aus Angst vor den Ansprüchen dieses ambivalenten Sinns hat man sich dann auch für den deutschen Untertitel „Nicht den Hauch einer Chance“ entschieden. Vom Schrei zum Hauch sind es also zwei Jahrzehnte und ein Umweg über eine Sprache, während eigentlich dieselbe Crux artikuliert wird. Ist das noch Dokumentarfilm, oder nicht schon Doku zum Film, das was „Die Last der Träume“ für „Fitzcarraldo“ ist? Gar Remake in einem Genre, das eigentlich nicht (mehr) verdächtigt wird, Massen zu mobilisieren, vielleicht, weil es so sehr verdeckende Wände zeigt? Wiederholt Film, überschreibt er zuweilen die Erinnerung und baut eine Mauer dort, wo nur die Arkade den Blick zurück ermöglicht?
Der neue „Cerro Torre“ gibt sich durchsichtig dort, wo er neue und alte Medien auf der Leinwand abbildet. Das beginnt mit dem eröffnenden Lexikoneintrag zum „Freiklettern“ (samt der in diesem Kontext irgendwie schon klischeehaften Lexikon-Interpunktion) und findet seine Fortsetzung in Zeitungscollagen, in Blogeinträgen und verpixelten Computergrafiken. In Verbindung mit gestellten Szenen und Archivaufnahmen werden so verschiedene Etappen der Cerro Torre-Erschließung nachgezeichnet, welche zuweilen schon selbst Parabelcharakter hat: Da Cesare Maestris behauptete Erstbegehung von 1959 angezweifelt wird, kehrt dieser 1970 nach Patagonien zurück – mit Kompressor und Bohrmaschine, um sich die technisch anspruchsvolle Südwest-Flanke des Torre hinaufzunageln und „Mord am Unmöglichen“ zu begehen. Der Kompressor, mehr Symbol als Beweis, prangt noch heute eine Seillänge unter dem Gipfel. David Lama erregte Aufsehen und Unglauben, als er ankündigte, diese Route frei klettern zu wollen, was ihm Anfang 2012 gelang, wenige Tage nachdem eine amerikanische Seilschaft die meisten von Maestris Haken aus der Wand entfernt hatte. Mediale Übertragungen wählt der Film also zum Formprinzip, um den langen Weg der Übertragung des Sportkletterns auf den großen Berg darzustellen, die Lama in der ersten Szene als wortwörtlichen Traum erzählt: Darin macht er die Tür der Kletterhalle auf und findet sich im Schneegestöber.
Sport- und Bergbegeisterte kommen in dem Film auf ihre Kosten. Spektakuläre Hubschrauberaufnahmen, waghalsige Shots direkt aus der Wand ins Geschehen, aber auch die Point-of-View-Aufnahmen der Helmkameras, all das wird in den entsprechenden Szenen zu einem perfekten Bilderreigen der Unmittelbarkeit montiert. Die Rhetorik des „Über-sich-hinausgehens“, die im Extremsport jeder Art angewendet wird, kann in Verbindung damit im geneigten Zuseher ein Pathos erzeugen, das ohne die Bilder lächerlich wäre. Genauso wie die Landschaftsaufnahmen oszillieren damit die Kletterszenen je nach Betrachter zwischen potentiellen Erfahrungen des Erhabenen und der einförmigen und in der Länge langweiligen Vorstellung, dass es da oben halt so gewesen ist.
Interessanterweise darf Reinhold Messner – der geistige Vater der Herzog-Bearbeitung – ausgerechnet als Kritiker des aktuellen Filmprojekts kurz zu Wort kommen: Ob Lama von der Filmcrew nicht missbraucht werden würde, denn im Film würde man all das nicht sehen, was sich nicht vermarkten ließe. Es ist dem Film vielleicht hoch anzurechnen, dass er die viele Kritik an seiner eigenen Entstehung zu Wort kommen lässt; andernfalls, muss allerdings ergänzt werden, wäre er untragbar geworden: Während Lamas erster Expedition 2010 bohrte das Team für die Dreharbeiten zusätzlich zu den bereits zahlreich vorhandenen Haken viele neue in den Fels des Torres und ließ darauf Müll am Fuße desselben zurück, was nicht nur in der örtlichen Kletter-Community auf sehr viel Kritik stieß: Es folgte ein „Shitstorm“ in Online-Foren, den der Film (für eine Art versöhnliche Vergeltung?) als Pixel-Rachefantasie inszeniert und der von Lama als „berechtigte Kritik an seiner Person als Kletterer“ bezeichnet wird. Das Red Bull-Filmteam setzt sich darüber hinaus in eine Analogie zur fragwürdigen Leistung Maestris, wenn zu den Bildern der Felspräparierung mit demonstrativ leidvoller Intonation aus dem Off lamentiert wird, man sei nur daran interessiert, einen Film zu drehen, als gelte es, ein Kreuz zu Berge zu tragen. An dieser Stelle tun sich die eigentlichen Abgründe auf, die noch ihrer Erstbegehung harren. Stattdessen wird in einem Nebenstrang die Erfolgsgeschichte einer Läuterung erzählt, die da formal das Finale der Herzog-Version repetiert und umdeutet, wenn der Torre von zwei Seiten bestiegen wird.
Nach welchen Kriterien soll ein solches Machwerk benotet werden? David Lamas Leistung in Patagonien steht außer Frage. Nach allen Regeln der Kunst wird sie ab 13. März im Kino wiederholt.