Ein kleiner Junge liegt auf dem Rücken im Gras und blickt zum Himmel. Er stellt sich dabei vor, wie sich ein Wassertropfen im Zusammenprall mit der Luft in eine Wespe verwandelt. Der 6-jährige Mason (Ellar Coltrane) ist ein stilles, verträumtes Kind, das mit schulischer Disziplin noch nicht viel anfangen kann und lieber mit seinem Freund Tony Graffitis sprüht oder in einem Katalog mit Damenunterwäsche blättert. Gegenüber seiner zwei Jahre älteren, ziemlich überkandidelten Schwester Samantha (Lorelei Linklater), die durch vorlaute Besserwisserei und zickige Starallüren nervt, fühlt er sich vernachlässigt und unterlegen. Noch lebt Mason in einer magischen Welt, die jedoch immer deutlichere Risse bekommt. Denn seine junge, alleinerziehende Mutter Olivia (Patricia Arquette) ist in ihrer Doppelrolle als Ernährerin und Erzieherin überlastet und plant einen Umzug von Austin nach Houston, wo ihre Mutter lebt.
In Richard Linklaters Coming-of-Age-Film „Boyhood“, der (mit autobiographischen Anleihen) über einen Zeitraum von zwölf Jahren hinweg von der Kindheit und Jugend eines texanischen Jungen erzählt, sind es immer wieder Umzüge, die schmerzliche Brüche erzeugen. Mason verliert Freunde, muss sich an neue Mitschüler gewöhnen und sich mit wechselnden, meist autoritären Vaterfiguren auseinandersetzen. Einprägsam beschreibt Linklater dieses Spannungsfeld aus Fremdbestimmungen, dessen formenden und manipulierenden Kräften der Junge unfreiwillig ausgesetzt ist. Unter all diesen Einflüssen und Bevormundungen geht es aber auch um die Bewahrung der eigenen introvertierten Identität, die immer wieder in neue Richtungen gelenkt wird und sich im Jugendalter in künstlerischen Ambitionen manifestiert. Einmal sagt Mason zu seiner Freundin Sheena (Zoe Graham), die zugleich seine erste große Liebe ist, er wolle sich lebendig fühlen und könne sich deshalb nicht verbiegen.
„Du bist verantwortlich für deine eigenen Handlungen“, steht auf einem Schild am Eingang zum Klassenzimmer. Dort beginnt der Unterricht mit dem Fahneneid. Mit der Darstellung von Patriotismus, Machogehabe, Waffenkult und christlicher Religion wirft Linklater immer wieder bezeichnende Streiflichter auf den wertkonservativen, teils reaktionären Lebensstil in weiten Teilen der US-amerikanischen Gesellschaft. Seine zeitgeschichtlichen Referenzen auf den Irak-Krieg, Obamas Wahlkampf oder auch die Harry Potter-Manie bleiben jedoch oberflächlich und ohne Vertiefung. Überhaupt neigt die szenische, bruchstückhafte Erzählweise zum Plakativen und zu abfallender Spannung. Auch wenn sich die erzählerischen Lücken imaginativ meist schließen lassen, würde man bei konkreten Anlässen manchmal gerne erfahren, wie’s weitergeht mit den Suchbewegungen des aufwachsenden Jungen.
Trotzdem gibt es viele intensive und vor allem intime Momente, aus dem normalen Alltag herausgegriffen, die Masons Persönlichkeit nachhaltig prägen. Eindrucksvoll werden Entwicklungen schließlich an den Körpern selbst ablesbar, denn Richard Linklater hatte das Glück, für seine fiktionale Langzeitstudie „Boyhood“ über die Jahre hinweg mit den gleichen Schauspielern drehen zu können. „Wer willst du sein?“, wird Mason einmal von einem Lehrer gefragt. Die amerikanischen Selbstermächtigungsmythen, deren Forderungen sich Mason mitunter bewusst entzieht, wirken stark und auf vielen Ebenen dieses Films. Dass es für ein gelingendes Leben hingegen kein Rezept gibt, drückt einmal Masons Vater (Ethan Hawke), selbst noch ein Kindskopf und im Umgang mit seinen Kindern immer etwas überdreht, folgendermaßen aus: „Wir alle improvisieren.“ Mason wiederum wendet diesen spielerisch- ausprobierenden Zugang zum Leben danach ins unkontrolliert Passive, wenn er – auf einem Mushroom-Trip inmitten der Natur – in Abwandlung einer bekannten Sentenz überlegt, dass es vielleicht der Augenblick ist, der „uns (be)nutzt“ – hier und jetzt.