Groß und machtvoll erhebt sich das Schloss über dem mittelalterlichen Dorf mit den geduckten Häusern. Dessen in Armut und Not lebende Bewohner werden von einem finsteren Fürsten, der diabolische Züge trägt, hemmungslos ausgebeutet. Schwarz ist die dominierende Farbe seiner Erscheinung. Als das junge Bauernpaar Jeanne und Jean den Bund fürs Leben schließt und sich ewige Liebe verspricht, fordert der Fürst die erste Liebesnacht mit der frisch vermählten Braut. Ganz sacht und schrittweise mischen sich zu Beginn von Eiichi Yamamotos aus dem Jahre 1973 stammenden Animationsfilm „Belladonna of Sadness“ (Die Tragödie der Belladonna), der digital restauriert jetzt wiederaufgeführt wird, blasse Farben ins Bild der unschuldig Liebenden. Bis der Fürst, begleitet von höllischem Gelächter, durch seine brutale Vergewaltigung der jungfräulichen Jeanne bewirkt, dass ein gewaltiger Strom von Blut aus ihrem Unterleib hervorbricht.
Damit steht für die Geschändete und ihren Mann am Beginn eines möglichen neuen Lebens ein Trauma. Die Zukunft ist erloschen, noch ehe sie begonnen hat, heißt es dazu in einem Lied. In ihrer Not erscheint Jeanne der Teufel, der sich ihrer Spindel entwindet, um daraufhin die Gestalt eines sprechenden Phallus anzunehmen. „Ich bin du selbst“, sagt der Verführer, der vorgibt, Jeannes „Ruf des Herzens“ zu folgen und ihre innersten Wünsche zu kennen. So verkauft die schöne, von ihren Seelenqualen überwältigte Braut zunächst ihren Körper, später ihre Seele dem Teufel und gewinnt dadurch zunehmend an Macht und Ansehen. Bald gilt sie als eine vom Teufel besessene Hexe. Während das Land in Hunger, Krankheit und Krieg versinkt, steigt Jeanne zu einer dem Fürsten nahezu gleichgestellten Herrscherin auf, die mit der als magisch geltenden Pflanze Belladonna (ein hier doppeldeutiger Name) und einer überschäumenden sexuellen Kraft Menschen heilt und damit zu ihrer Gefolgschaft macht. Ihre rachsüchtige Revolte kulminiert allerdings in Hybris („Ich will alles auf dieser Welt.“) und endet schließlich auf dem Scheiterhaufen.
Das erinnert nicht von ungefähr an das Schicksal der französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc. Eiichi Yamamoto und sein Produzent Osamu Tezuka, der in Japan als legendärer Manga-Künstler gilt, haben sich für ihren Anime nämlich von Jules Michelets Traktat „La Sorcière“ (Die Hexe) von 1862 inspirieren lassen. Darin wendet sich der als radikaler Republikaner geltende Historiker gegen die Unterdrückung der Frau zur Zeit der mittelalterlichen Hexenverfolgung und portraitiert die Hexe als „Ärztin des Volkes“. In ausgedehnten, durch minimale Animation und eine intensive Tonspur gekennzeichneten Sequenzen evoziert Yamamoto surreale Bilder von Schrecken, Leid und Tod. Unterlegt mit zeittypischer Pop- und Jazzmusik, schwelgt der Film in einem psychedelischen Rausch aus Farben und ornamentalen Formen, deren Verschlingungen dem Konzept permanenter Verwandlung huldigen und so immer wieder Sex und Gewalt verschmelzen. Doch trotz dieser überbordenden Phantastik bleibt in Yamamotos Fabel über Macht und Unterdrückung, die mit dem Blick auf Eugène Delacroix‘ revoltierende Marianne als Motiv seines berühmten Gemäldes „Die Freiheit führt das Volk“ (1830) endet, stets die identifizierende Phantasie des Zuschauers gefordert.