Blau ist die Farbe dieses Films über die Sehnsucht nach Liebe inmitten unsteter Gefühle. Aus der Vogelperspektive erfasst die Kamera eine junge Frau beim Schwimmen im klaren, frischen Meer. Sie ist nackt und schön, jung und frei. Am Strand hat Alice (Ariane Labed) Sex mit Félix (Anders Danielsen Lie), einem Comic-Zeichner aus Norwegen. Dieser zeichnet gerade ein Bild, auf dem Alice eine Meerjungfrau ist, die sich in die Fluten stürzt, während er selbst tränenüberströmt an Land zurückbleibt. Alices Element ist das Wasser. Als Zwitterwesen muss sie Leben, Liebe und Arbeit aufteilen zwischen den Tagen an Land und denen auf See. Tatsächlich arbeitet sie trotz ihrer zarten Erscheinung als zweite Mechanikerin auf einem Frachtschiff inmitten von Männern. Doch Alice ist selbständig und resolut genug, sich zu verteidigen und ihre Unabhängigkeit zu wahren.
„Fidelio, l’odyssée d’Alice“ heißt Lucie Borleteaus beeindruckender, eigenwillig gestimmter Debütfilm „Alice und das Meer“ im französischen Original. Zwischen Treue und sexueller Hingabe, Sehnsucht und Lust navigiert die maritime Heldin auf einer Irrfahrt der Gefühle durch das Blau einer schieren Unendlichkeit und gerät dabei in einen Konflikt zu ihrer „großen Liebe“ Félix, nach dem sie sich in Erwartung verzehrt. Denn auf der maroden „Fidelio“, die früher „Éclipse“ hieß, begegnet sie in Gestalt des Kapitäns ihrem früheren Ausbilder und Liebhaber Gaël (Melvil Poupaud), mit dem sie erneut eine stürmische Affäre beginnt. Alice, die sagt, sie werde „nie eine normale Frau sein“, will alles in der Liebe und setzt sich damit der Angst aus, „alles zu verlieren“. Denn nicht immer bleibt das, was auf See passiert, auch dort, wie ein alter Seemannsspruch behauptet. Und die Gefühle sind so unstet wie das schwankende Schiff auf den bewegten Wassern.
Ganz unaufdringlich und zart spielt Lucie Borleteau mit diesen Motiven und Metaphern, um ihren ansonsten realistischen Film in eine sinnliche Atmosphäre zu tauchen. Überraschend offen und freizügig begleitet sie die Odyssee ihrer sehnsuchtstrunkenen Heldin zwischen leidenschaftlichem Sex und der vergeblichen Suche nach Liebe. Von einer solchen handelt nämlich das Tagebuch eines verstorbenen, herzkranken Seemanns, dessen Kajüte Alice eingangs bezieht. In den Schattenseiten der poetischen Notate findet sie schließlich Kraft für ihr eigenes Leben. Gleichwohl lösen sich im Spiegel der Negation nicht einfach die Konflikte, sondern Lucie Borleteau schafft durch Ellipsen, Unausgesprochenes und beredte Blicke immer wieder Raum für die Ungewissheit. Das Schiff mit seinem engen, labyrinthischen Maschinenraum ist kein sicherer Ort und das Meer ist voller Gefahren und dunkler Lockungen, worauf schon der mysteriöse Beginn des Films hindeutet, wenn Alice in dunstiger Nacht die „Fidelio“ besteigt. Dazu passen Sätze aus dem Tagebuch des einsamen Seefahrers, wo es ahnungsvoll heißt: „Der Wind hat sich gelegt. Das Meer lächelt sein blaues, scheinheiliges Lächeln und versteckt seine Zähne aus weißer Gischt.“