Die Vertretungslehrerin Isabelle (Florence-Loiret Caille), die Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, zitiert Rilkes „Der Panther“: „und hinter tausend Stäben keine Welt“. Die Kamera erfasst sie dabei im Detail, rastert ihre Schritte, fixiert sie von hinten im Nacken. Wie eine Nichtsesshafte wechselt sie Orte und Beziehungen und wähnt sich dabei in einem Gefängnis, das Schule heißt und das seine Gitter über die Bilder und Architekturen legt. Ähnlich dem zitierten Panther in seinem Käfig ist auch ihre Stärke gehemmt, ihr Wille betäubt. Das wahre Leben ist anderswo. Ihre Existenz wird von nicht gelebten Möglichkeiten verzehrt. Und doch hält sie in ihrem Beruf an einer Utopie fest: Gegenüber einer Nachhilfeschülerin verteidigt sie die Fremdsprache als Möglichkeit, in ein anderes Leben einzutauchen.
„Au voleur“, der Debütfilm der jungen Straßburger Regisseurin Sarah Leonor, bewegt sich langsam, aber zielstrebig auf diese Freiheit zu. Verkörpert zunächst in der Gegenfigur des Diebs Bruno (Guillaume Depardieu), einem coolen, routinierten Kleinkriminellen mit wachem Geist und unfehlbarem Instinkt, der eine große Selbstsicherheit und Unabhängigkeit ausstrahlt. Sein kriminelles Handwerk ist Spiel und Ritual; still und unaufgeregt folgt es einer geheimen Ordnung, die Bruno mit seinem älteren, eben aus der Haft entlassenen Freund und Kollegen Manu (Jacques Nolot) verbindet und ihn andererseits von dem jugendlich unbedachten Nacheiferer Ali (Rabah Nait Oufella) abrückt.
Ein Unfall initiiert das Liebesbegehren zwischen Isabelle und Bruno, eine gemeinsame, rasant inszenierte Flucht in die Natur lässt es wachsen. Als verschworene Gesetzlose werden sie zu Waldindianern, zu Wilden, die in das überwältigende Grün einer mythologisch aufgeladenen Flusslandschaft eintauchen. In einem alten Fischerkahn lassen sie sich auf dem Wasser treiben, umringt von einer wildwuchernden Vegetation und den besänftigenden Geräuschen der Natur. In den oberrheinischen Rheinauen gedreht und mit den verhaltenen Klängen des Delta-Blues unterlegt, erweisen Sarah Leonors Bilder hier ihre Referenz Jim Jarmusch und seinen Filmen „Down by Law“ und „Dead Man“. Bruno und Isabelle bewegen sich frei und ziellos in einem temporären Fluchtraum jenseits der Zivilisation. Und doch müssen sie auf einer langen schmerzlichen Reise, die auch eine Überfahrt ins Reich der Schatten ist, dieses Leben zurücklassen.