„Intelligence“ ist der Begriff, mit dem die Geheimdienstarbeit bezeichnet wird. Es geht um Beobachtung, Überwachung, Kontrolle – alles, was der Informationsbeschaffung dient. Die Idee dahinter ist, dass derjenige, der über die meisten Informationen verfügt, auch die Deutungshoheit über den Zustand der Welt hat. Der klassische Spionagethriller, für den der Name John le Carré wie kein anderer steht, hat diese Vorstellung schon zur Zeit des Kalten Krieges mit schöner Regelmäßigkeit konterkariert. Die Weltöffentlichkeit wurde dann am 11. September 2001 eines Besseren belehrt, als zwei Flugzeuge in das World Trade Center flogen und die gut informierten Geheimdienste genauso hilflos zusehen mussten wie die Menschen vor ihren Fernsehgeräten.
Anton Corbijns Spionagethriller „A Most Wanted Man“, der auf le Carrés Roman „Marionetten“ basiert, ist der erste Film einer neuen Zeitrechnung. Die Anschläge vom 11. September 2001 stürzten nicht nur die Welt der Geheimdienste in eine Legitimationskrise, sie haben auch das Genre des Spionagethrillers um ein klares Feindbild gebracht. Anders als noch zur Zeit des Kalten Krieges hatten es die westlichen Geheimdienste nun mit einem Gegner zu tun, der zwar nicht mehr über das technische Know-how verfügte, sich stattdessen aber den gängigen Verhaltensregeln bei politischen Konflikten widersetzte. Der asymmetrische Krieg erforderte einen neuen Typus von Agenten, einen Jack Bauer, der außerhalb eines unausgesprochenen Konsens operierte.
Eine Weile schienen diese Praktiken ganz erfolgversprechend, Geheimdienste verfallen in Krisenzeiten gelegentlich einem blinden Aktionismus. Bis die öffentliche Meinung kippt. Diese Verunsicherung ist auch dem Narrativ des neueren Agententhrillers eingeschrieben, im Kino herrscht inzwischen eine Jason Bourne-mäßige Geschäftigkeit. (Selbst Robert Ludlums Superagent des Kalten Krieges wurde für die Ära des Drohnenkrieges reaktiviert) Altmeister John le Carré gehört zu den wenigen Autoren, die auch mal einen Blick hinter die Kulissen des Kriegs gegen den Terror geworfen haben und dabei mit einigen Gewissheiten brachen. Zum Beispiel, dass die Geheimdienste wissen, was sie tun.
Philip Seymour Hoffman sind diese Zweifel regelrecht ins Gesicht geschrieben: In jeder Geste, jedem Blick kommt eine hyperphysische Erschöpfung an der Welt zum Ausdruck. Hoffman spielt den Agenten Günther Bachmann, der einer geheimen Unterabteilung des deutschen Geheimdienstes vorsteht, welche selbst den eigenen Vorgesetzten ein Dorn im Auge ist. 'Ich leite eine Anti-Terror-Einheit, von der nur wenige Menschen wissen und die von noch weniger Menschen geschätzt wird“, sagt Bachmann einmal zu einer amerikanischen Kollegin. Die Ziele dieser Einheit sind langfristig ausgelegt. Ihm geht es um „Intelligence“, seine Vorgesetzten wollen „Action“. Aus diesem Gegensatz bezieht der Film seine innere Spannung.
„A Most Wanted Man“ spielt dort, wo alles begann, am Ground Zero der neuen Zeitrechnung. In Hamburg planten Mohammed Atta und seine Gruppe vor dreizehn Jahren die Anschläge auf das World Trade Center, vor den Augen des deutschen Geheimdienstes. Hier ist man besonders nervös. Dass Corbijn die Stadt in und auswendig kennt, ist dem Film anzusehen. Hamburg ist nicht bloß Kulisse für ein internationales Agentenscharmützel, sie hat sich auch tief in die Geschichte eingeschrieben. Gedreht wurde im Herbst, die Farbpalette changiert entsprechend zwischen gelblichem Grau und schmuddeligem Blau. Hoffmans müde Gesichtszüge heben sich farblich kaum vom Hintergrund ab.
Bachmann und seine Einheit, zu der auch Nina Hoss und Daniel Brühl gehören, haben einen Verdächtigen im Visier, der wie aus dem Nichts im Hamburger Hafen auftaucht. Issa Karpov ist der Sohn eines russischen Generals, er hat aber auch eine tschetschenische Geschichte. Er fungiert gewissermaßen als Bindeglied zwischen der neuen und der alten Zeit, dem Kalten Krieg und dem neuen Terror. Karpovs politischer Status ist der eines Staatenlosen. In Hamburg nimmt er über eine junge Menschenrechtsanwältin (Rachel McAdams) Kontakt mit dem Banker Thomas Brue (Willem Dafoe), einem Geschäftspartner seines Vaters, auf. Bachmann und sein Team beobachten jeden Schritt des illegalen Neuankömmlings, dessen Erscheinen dem Verfassungsschutz Rätsel aufgibt. Die Deutschen und die Amerikaner würden den jungen Moslem am liebsten gleich verschwinden lassen, aber Bachmann gelingt es durch geschicktes Taktieren und mit Hilfe eines mächtigen Verbündeten (gespielt von Herbert Grönemeyer, der für die angenehm unaufdringliche Filmmusik verantwortlich ist) Karpov so lange aus der Schusslinie der Geheimdienste zu halten, bis die Motive seines Aufenthalts geklärt sind.
Corbijn interessiert sich eher am Rande für eine äußere Handlung, was in einem Agententhriller zunächst ein gewagter Move ist. Thomas Alfredson hat ihn in der anderen maßgeblichen le Carré-Verfilmung der letzten Zeit, „Dame, König, As, Spion“, schon bravourös vollzogen. Corbijn geht es im Gegensatz zu Alfredson aber um die Beziehungen, die die Figuren im Zentrum der Geschichte zusammenhalten. Sein Ansatz hat fast etwas Strukturalistisches. „A Most Wanted Man“ deckt diese Verbindungen sukzessive auf. Oberflächliche betrachtet, besteht Corbijns Films aus nicht mehr als minutiösen Beobachtungen von Prozessen, nicht unähnlich der Polizeiarbeit in „The Wire“. Die Komplexität der politischen Verhältnisse wird erst in den Beziehungen der Figuren untereinander deutlich – etwa zwischen Karpov und seiner Anwältin, die beide die Konsequenzen ihres Handels nicht einmal ahnen. Im Grunde sind sie Marionetten, naive Kinder in einer zynischen Welt des Terrors: der Geheimdienste und der heiligen Krieger. Bezeichnend die Dialoge zwischen Bachmann und der von Robin Wright gespielten Leiterin des lokalen CIA-Büros: Da sprechen zwei nüchterne Pragmatiker, deren gegenseitiger Respekt von professionellem Misstrauen getrübt wird.
“To make the world a safer place”, entgegnet die Amerikanerin auf Bachmanns Frage, wofür sie ihren Job mache. Diese Aussage führt Corbijn in nahezu jeder Einstellung auf die mit Blindheit geschlagenen Ermittler ad absurdum. Dass der ehemalige Rockfotograf seine glamouröse Manierismen diesmal unter Kontrolle hat (manieristisch ist „A Most Wanted Man“ allenfalls in seiner sozialrealistischen Prozac-Ästhetik), verleiht den Agenten-Routinen eine plausible Tristesse. Günther Bachmann ist das Gegenteil eines George Smiley: ein zynischer Idealist. Vor diesem Hintergrund hat Corbijns Schlusseinstellung etwas Programmatisches. Am Ende eines vorbildlich antiklimaktischen Showdowns setzt sich Bachmann wortlos in sein Auto und fährt los. Und steigt irgendwann aus. Entfernt sich. Der Zuschauer auf dem Rücksitz bleibt allein mit einem Gefühl von Leere.
Dieser Text erschien zuerst (ähnlich) in Konkret 9/14