Alles beginnt mit einer nächtlichen Autofahrt. Maria rast irgendwo in Griechenland über eine Autobahn. Sie ist allein. Hinter ihr tobt ein unkontrollierter Waldbrand, auf dem Rücksitz ihres Geländewagens liegt eine Tasche voller Geld. Im Radio ist von Brandstiftung die Rede. Bereits nach den ersten Minuten besteht für den Zuschauer kein Zweifel, dass sie etwas mit dem Feuer zu tun hat. Das Feuer ist die Konsequenz einer Explosion (im übertragenen Sinne), die Maria zu einer Verzweiflungstat trieb und verbrannte Erde (nicht nur im übertragenen Sinne) hinterlassen hat.
Der griechische Kapitalist, so schrieb der Philosoph Nikos Dimou, benehme sich „wie ein Familienvorstand.“ Entscheidungen fällt er gewöhnlich allein, selten im Familienkreis. Eigeninitiative oder Mitsprache wird eher nicht erwartet, die Öffentlichkeit gemieden. Korruption und Klientelismus können dadurch blühen und gedeihen, Zahlen können dadurch lange frisiert und Partner betrogen werden. Geholfen wird nur Personen, die zur Familie gehören. Der Nachteil: Misswirtschaft kann durch diese Strukturen zumeist erst dann aufgedeckt werden, wenn es eh schon zu spät ist und der Bankrott unabwendbar ist. Auf diese Weise wurde – so scheint es – auch der griechische Staat über Jahrzehnte geführt, bis erst die Kreditwürdigkeit den Bach runterging, dann die ersten sozialen Verwerfungen auftraten und schließlich das Land zu einer Art EU-Protektorat geworden ist.
Der griechische Staat agiert also wie Familie, deren einzelnen Mitglieder weitgehend entmündigt werden. Kein Zufall ist es daher, dass viele Produktionen des aktuellen griechischen Kinos (oftmals dysfunktionale) Familienaufstellungen mit filmischen Mitteln sezieren. Stück für Stück, mit Zeitsprüngen und Rückblenden in die Vergangenheit, enthüllt die teils mehrfach verschachtelte Handlung in „A Blast“, wie und warum es zur eingangs beschriebenen Katastrophe kommen musste. Die Fragmente des Films, die für sich genommen desorientierend wirken, ergeben zusammengesetzt die Chronik eines familiären Elends, das wiederum mit der Krise Griechenlands eng verzahnt ist. Im Mittelpunkt der Ereignisse steht Maria.
Die dynamische, bis zur Hysterie emotionale Frau beginnt ihr Leben als Erwachsene mit handfesten Plänen und hochfliegenden Träumen. Zehn Jahre später ist davon nichts mehr übrig. Ihr Leben wird von der permanenten Dominanz ihrer Familie bestimmt. Für den Familienbetrieb, einen kleinen Kiosk, opferte sie ihr Studium. Für ihren Mann, einen Seemann, opferte sie ihre Freiheit. Während dieser die meiste Zeit auf See ist und dort seinen Affären nachgeht, muss sie ihre drei Kinder alleine aufziehen. Die wenige Zeit, die sie miteinander haben, verbringen sie mit wildem Sex. Die Leidenschaft ist ehrlich, trägt aber auch Verzweiflung in sich. Maria leidet nicht nur unter der ständigen Abwesenheit ihres Partners, auch andere Probleme beginnen ihr zu schaffen zu machen. Für ihre etwas einfältige Schwester Gogo hat ihr Vater einen Mann ausgesucht, mit dem diese sich immer mehr von faschistischen Kreisen vereinnahmen lässt. Wie Maria eher zufällig herausfindet, hat ihre kühle und autoritäre Mutter für den Kiosk schon lange keine Steuern mehr gezahlt. Jahrelang ging das gut, doch in der Krise macht der Staat ernst mit seinen Drohungen, Steuersünder zu jagen. Bankrott, Pfändung und Gefängnis drohen.
Wie die Handlungsfähigkeit des Staates ist die der Familie auch nur noch eingeschränkt. Während ihre Schwester die Schuld bei „den Migranten“ sucht, flüchten sich die Eltern in Apathie. Maria, die zuvor noch am Rande des Nervenzusammenbruchs stand, sieht jetzt klar: Ein Befreiungsschlag muss her. Eine Explosion, die alle festgefahrenen Strukturen zerstört. Ein Ausbruch, mit dem sie sich aus der Fremdbestimmung und der ausweglosen Situation befreien kann. Sie scheut dabei keine Konfrontation. Nicht mit den Behörden, nicht mit der Familie. So kraftstrotzend und wütend, wie sie in einer Szene am Anfang des Films auf einen Sandsack eindrischt, verprügelt sie später auch ihren Schwager. Sie ist brutal und rigoros, auch gegen sich selbst.
Natürlich sind – das gibt auch der Regisseur Syllas Tzoumerkas im Gespräch zu – bei diesem griechischen Drama im Subtext die antiken Tragödien präsent. Marias Träume sind bereits zerstört worden. Jetzt muss sie beinahe schicksalshaft ihren Weg gehen, ihr bisheriges Leben aufgeben und Schuld auf sich laden. Sie zerstört ihre Familie und schließt, um zumindest einen Teil der Steuerschuld zu begleichen, einen Pakt mit einer mafiösen Immobilienfirma.
Aber bedeutet Marias Ausbruch tatsächlich auch eine Katharsis für sie? Eher nicht. In einer der merkwürdigsten Szenen des Films geht sie in ein Internetcafé und ruft Videos auf, in denen die abseitigsten Sexualpraktiken vorgeführt werden. Während die Personen, die um sie herumsitzen, ihren Augen nicht trauen und dabei verlegen und irritiert auf ihren Monitor schauen, zeigt Maria keine Regung. Nach dem Hardcore-Sex betrachtet sie ebenso emotionslos eine Internetseite, auf der hemmungslos geweint wird. Gleichgültigkeit und Entfremdung haben ihre Leidenschaft abgelöst. Sie ist ausgebrannt und hat den Blick eines Zombies: zu stumpf für Mitleid, Trauer und Angst. Vor ihr liegt eine ungewisse Zukunft, die noch schrecklicher sein könnte, als das, das bisher geschehen ist.
Am Ende schließt sich der Kreis. Der Waldbrand am Anfang des Films, verursacht durch Brandstiftung, war die Konsequenz einer Verzweiflungstat und der vorweggenommene Schluss einer tragischen Familiengeschichte. Griechenland steht – metaphorisch und konkret – in Flammen.
„A Blast“ ist in verschiedener Hinsicht Ausdruck einer Krise. Als die Troika 2013 von Griechenland verlangte, tausende Stellen im öffentlichen Dienst abzuschaffen, wurde das öffentlich-rechtliche Fernsehen des Landes über Nacht geschlossen. Damit fiel auch ein wichtiger Geldgeber des Films aus, die Produktion selbst wurde von der Krise eingeholt. Ziemlich viel Improvisation war nötig, um das Wegfallen der bereits eingeplanten finanziellen Mittel zu kompensieren. Hilfreich war dabei, dass die Hauptdarstellerin Angeliki Papoulia und Regisseur Syllas Tzoumerkas bereits seit Jahren zusammen in der „Blitz Theatre Group“ arbeiten.
Andererseits ist „A Blast“ posttraumatisches Kino, so ungefiltert, wie wir es vom Autorenkino aus anderen Krisenstaaten kennen (man denke nur an den mexikanischen Cannes-Gewinnerfilm „Heli“ von Amat Escalante (2013)). Je dramatischer die Situation in einem Land wird, um so besser werden die Filme, so scheint es. Der wirtschaftliche Niedergang wird mit künstlerischen Höhenflügen gekontert.
„A Blast“ ist ein bitterer und experimentierfreudiger Film über ein Land, das schon lange nicht mehr am Abgrund steht, sondern schon hineingefallen ist. Privates und Politisches, das Zerbrechen von Familien und das Zerbrechen eines ganzen Landes an den ökonomischen Verhältnissen, sind nicht voneinander zu trennen.
Marias Ausbruch ist ein Akt der Verzweiflung und eine Rebellion gegen die Elterngeneration, die die Krise verursacht hat und der Ausdruck der Wut einer desillusionierten Generation, die unverschuldet in einer ausweglosen Situation gelandet ist und – mit dem politischen, ökonomischen und moralischen Kollaps ihres Landes konfrontiert – sich mit unterschiedlichen Mitteln aus der Zwangsherrschaft ihrer Herkunft zu befreien versuchen will und muss. „A Blast“ ist authentisches und schonungsloses Krisenkino: Explosiv, impulsiv und ohne Rücksicht auf Verluste.
Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'A Blast – Ausbruch'.