In Stefan Zweigs „Schachnovelle“ ist ein Buch mit berühmten Schachpartien die einzige Ablenkung für den monatelang von den Nazis festgehaltenen Arzt Dr. B., der erst akribisch jede einzelne der im Buch dokumentierten Partien memoriert, bevor er schließlich beginnt, im Kopf gegen sich selbst zu spielen und dabei eine „Schachvergiftung“ erleidet, eine akute Spaltung seiner Persönlichkeit. – Ganz Ähnliches widerfährt dem Protagonisten von Éric Tessiers „5150 Elm’s Way“: Seine einzige Chance einem Soziopathen zu entkommen, besteht darin, ihn im Schachspiel zu besiegen.
Yannick Bérubé (Marc-André Grondin) möchte eigentlich nur seinen neuen Wohnort erkunden, als er mit dem Fahrrad stürzt und sich verletzt. Auf der Suche nach Hilfe trifft er den Taxifahrer Jacques Beaulieu (Normand D’Amour), der zunächst etwas abweisend reagiert. Wenig später weiß Yannick warum: Beaulieu ist ein Mörder, dem nach seiner Enttarnung nichts anderes übrig bleibt, als den jungen Mann einzusperren. Für den beginnt eine mehrmonatige Tortur: Familienvater Beaulieu ist ein religiöser Fundamentalist, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Sünder zu bestrafen, und dabei die volle Unterstützung nicht nur seiner braven Gattin Maude (Sonia Vachon), sondern auch seiner höchst aggressiven Tochter Michelle (Myléne St-Sauveur) genießt, die seine Mission irgendwann fortsetzen soll. Die Legitimität dieser Mission begründet Beaulieu wiederum mit seiner Unfehlbarkeit im Schachspiel und geht mit Yannick einen Handel ein: Wenn es diesem gelingt, ihn zu schlagen, wird er freigelassen. Yannicks Ehrgeiz ist geweckt, fieberhaft übt er, um seinen Peiniger zu besiegen. Doch der verfolgt mit dem Wettkampf einen ganz eigenen Plan …
Tessier begibt sich mit „5150 Elm’s Way“ zunächst auf das Terrain des in den letzten Jahren populären Terrorfilms, in dem das Grauen mit brutaler Vehemenz in den Alltag der Protagonisten einbricht und vor allem körperliche Pein für diese nach sich zieht: Seine Exposition ist kurz, der Umschwung zum Horrorfilm erfolgt abrupt, das Haus der Beaulieus steht mit seinen schummrig-schmutzigen Erdtönen in krassem Kontrast zum draußen herrschenden Sonnenschein, christliche Devotionalien unterstreichen die Atmosphäre verdrängter Schuld und körperliche Gewalt ist immer mit Schmerzen, Blut und Geschrei verbunden. Was Tessiers Film von Vorbildern wie „High Tension“, „The Hills Have Eyes“ (2007) oder „Frontier(s)“ unterscheidet, ist der Verzicht auf deren karikatureske Überzeichnung der Schurkenfiguren: Statt degenerierter Kinder, deformierter Kannibalen und Opas in Naziuniform findet man mit den Beaulieus eine Mörderfamilie vor, die nun tatsächlich ganz im Schoß der Bürgerlichkeit aufgehoben ist und deren Krankheit sich nicht äußerlich zeigt. Und so wie Tessier also den Blick von den Körpern ab- und den inneren Prozessen seiner Figuren zuwendet, so verwandelt sich sein Terrorfilm in einen Psychothriller, dem weniger an Gewaltdarstellung als an Gewaltauflösung, weniger an einer Breitseite gegen das Spießertum als vielmehr an der Suche nach den Ursprüngen von Beaulieus moralischem Fundamentalismus gelegen ist. Und dafür kommt ihm das Schachmotiv überaus gelegen.
Schach gilt nicht nur als das populärste Brettspiel der Welt, sondern auch als das komplexeste. Die Zahl möglicher Spielzüge und Spielvarianten geht gegen unendlich, sodass es für den Erfolg entscheidend ist, die Zugmöglichkeiten des Gegners zu erkennen, seine tatsächlichen Züge zu antizipieren und dieses Wissen wiederum in die eigene Taktik einfließen zu lassen. Diese Komplexität hat Schach nicht nur den Ruf des „Königs aller Spiele“ eingebracht, sie hat auch den Mythos begründet, dass ein guter Schachspieler auch den Anforderungen des Lebens besser gewachsen sei. Kurz gesagt: Schach ist auf 64 Felder und 32 Figuren eingedampftes Leben. Diesem Glauben hängt auch Beaulieu an: Weil er jeden Zug Yannicks präzise vorhersagen kann und daher förmlich unbesiegbar ist, folgert er daraus, auch in der Realität unfehlbar zu sein. Und wenn er unfehlbar ist, dann ist er auch im Recht, wenn er Menschen als Sünder stempelt und für ihre Taten bestraft. Die einzige Möglichkeit, ihn umzustimmen, ist es, ihm diese eine Niederlage zuzufügen. Doch je fieberhafter Yannick daran arbeitet, umso tiefer stürzt er selbst in die Psychose, die schon Stefan Zweigs Dr. B. in der „Schachnovelle“ ereilt und die – ein Standard des Serienmörderfilms – man für Tessiers Film mit Friedrich Nietzsche wie folgt beschreiben könnte: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
„5150 Elm’s Way“ ist zwar fest im Genrekino verwurzelt und sollte insofern als Genrefilm rezipiert werden, doch scheut er sich nicht davor, eigene, neue Wege zu gehen. Die eher ungewöhnliche Mischung aus Körperhorror und Psychothriller funktioniert ausgezeichnet, weil beide Aspekte in Tessiers Inszenierung miteinander in Beziehung treten wie die Spieler einer Schachpartie. Das Schachmotiv ist natürlich der Clou des sauber inszenierten und gut gespielten Films, der die oft anstrengende Hysterie des Terrorfilms ebenso zu vermeiden weiß wie allzu abgegriffene Klischees, weil er Körper und Geist auf engstem Raum zusammenbringt, den großen Konflikt im Kleinen spiegelt. Und dass Tessier diese Pointierung in seiner makabren Finalenthüllung noch einmal zu überbieten weiß, ohne dabei in die Plottwist-Falle zu laufen, lässt für zukünftige Filme von ihm noch einiges erhoffen.