Minutenlang sieht man, zwischen subjektiver und objektiver Perspektive wechselnd, auf Schienen und Gleisanlagen, auf Züge, die in Bahnhöfe einfahren oder sich entfernen: ein einziges Kommen und Gehen. Manchmal scheint es, als ob die Züge in dem Gewirr von Gleisen, graphisch sichtbar gemacht in den Blinklichtern einer Schaltzentrale, nach dem richtigen Weg suchten. Als handle es sich um Lebenslinien, zeigt die französische Regisseurin Claire Denis zu Beginn ihres Films „35 Rhums“ (35 Rum) ein Geflecht von Schienensträngen, die nebeneinanderher laufen, sich berühren oder überschneiden. Auch ihre Figuren befinden sich auf Wegen, die sie einander näher bringen oder voneinander entfernen. In diesem Sinn geht es in „35 Rhums“ um notwendige und tragische Abschiede und um ein Loslassen, das sich dem Ungewissen öffnet. Die Jahreszeit des Films ist der Herbst.
Claire Denis verbindet die Melancholie des Alters und die unumgänglichen Aufbrüche der Jugend in der zärtlichen Geschichte einer liebevollen Vater-Tochter-Beziehung. Das stille Einverständnis zwischen dem schweigsamen Zugführer Lionel (Alex Descas) und seiner erwachsenen Tochter Joséphine (Mati Diop) ist von umsichtiger, wechselseitiger Fürsorge und einem ruhigen, entspannten Miteinander gekennzeichnet. Denis beobachtet dieses häusliche Glück und die alltäglichen Verrichtungen, die es begleiten, mit gespannter Aufmerksamkeit und mit dem ihr eigenen Interesse für die nuancenreiche Sprache der Körper.
Joséphine, die nachts in einem CD-Laden jobbt, studiert mit Eifer Anthropologie und interessiert sich dabei besonders für die Schuldenfalle, in der die armen Länder Afrikas gefangen sind. Einer ihrer Kommilitonen plädiert mit Frantz Fanon für die Revolte. Doch Claire Denis, die ihren Film unter schwarzen, aus der Karibik stammenden Einwanderern in Paris spielen lässt, benutzt diesen Hintergrund nicht für die Darstellung sozialer Konflikte und die Probleme der Integration. Ihre Protagonisten, wohnhaft in der Rue de la Guadeloupe, sind vielmehr ganz selbstverständlich in der bürgerlichen Mitte der fremden Kultur verortet. Sie haben ihr Auskommen, ihre Wohnung und nehmen am gesellschaftlichen Leben teil. Daneben pflegen sie aber auch den Austausch und den Zusammenhalt innerhalb ihrer Community.
Die inoffizielle Familie, in der Liebe und Arbeit Hand in Hand gehen, wird komplettiert von der Taxifahrerin Gabrielle (Nicole Dogué), einer früheren Freundin Lionels, und von dem unausgeglichen wirkenden Noé (Grégoire Colin), der in Joséphine verliebt ist. Doch das Band zwischen Vater und Tochter ist zunächst so stark, dass sich die verschworene Teilfamilie gegen die Einsamkeit der anderen abschottet. Das ändert sich allerdings nach einer Reise in die Vergangenheit, die Lionel und „Jo“ nach Lübeck und an die Ostsee führt und die zugleich ein Abschied ist.
Claire Denis entwickelt diese Geschichte einer Loslösung mit der ihr eigenen elliptischen Erzählweise. Dabei lenken die Lücken das Interesse auf den sinnlichen Reichtum der Details, auf das Unausgesprochene, Atmosphärische. Der „Wert eines Moments“, so die französische Regisseurin über ihre Kunst, bewahre „das Leben und die Zeit in den Dingen“. Ihr Erzählen meidet das Zentrum, um es stattdessen in einer nebenordnenden Struktur auszubreiten. Geduldig beobachtet sie Blicke und Gesten und verdichtet in deren undramatischer Abfolge eine filmische Spannung, die fast absichtslos starke Emotionen und berührende Momente erzeugt.