Im Jahr 1972, als „Deep Throat“ seinen unvergleichlichen Siegeszug an den US-amerikanischen Kinokassen antreten sollte, gab es weder das selbstreflexive Erzählen des Post-Porn noch ein kulturwissenschaftliches oder medientheoretisches Interesse an der Pornografie. Das Phänomen trat quasi blank auf und führte, setzt man das minimale Budget von 25.000 US-Dollar und das spätere millionenfache Einspielergebnis zueinander ins Verhältnis, zu einer der nach wie vor weltweit erfolgreichsten Produktionen der Filmgeschichte.
Spätestens mit der 2005 produzierten, nostalgisch wirkenden Dokumentation „Inside Deep Throat“ kann das Werk von 1972 zudem als kanonisch gelten. Vielleicht drückt sich in der schlichtweg falschen und oft kolportierten Behauptung, dass „Deep Throat“ der erste narrative Pornofilm überhaupt sei, aber immer noch ein Unbehagen daran aus, dass tatsächlich der Film über die Frau mit der Klitoris im Hals für ausverkaufte Säle im Mainstream-Kino sorgte.
Was „Deep Throat“ jedoch zweifellos und folgenschwer definieren sollte, war eine Grammatik des Pornos, die den Phallus und den finalen Cumshot plotimmanent und visuell als oberste Priorität setzt und somit die Ökonomie des männlich-sexuellen Blicks filmisch weiter festschrieb. Dadurch wurde der Film in der Tat ein wichtiger Repräsentant seiner Ära.
Zwei unterschiedliche Dekaden der US-amerikanischen Sexindustrie sind es auch, von denen die 1981 geborene, französische Zeichnerin Nine Antico in ihrem zweiten (und ersten auf Deutsch übersetzten) Comic „Coney Island Baby“ in Gestalt von Bettie Page und Linda Lovelace erzählt. Beide waren Ikonen ihrer Zeit. Bettie Page war das Pin-up-Starlet der 50er Jahre und als BDSM-Model für Ewigkeiten in die Zeichenwelt der Popkultur eingeschrieben. Linda Lovelace wiederum, die Hauptdarstellerin aus „Deep Throat“, startete später in den frühen 1980er Jahren einen durchaus widersprüchlichen Kreuzzug gegen die Pornografie.
Nine Antico erzählt ihre Bildgeschichte nicht nach einem klassisch biografischen Muster, an dessen Ende durch das Arrangement von Fakten eine suggestive Wahrheit steht. Überraschend wird Hugh Hefner, der Gründer des Playboy-Magazins, auf der ersten Comic-Seite als Erzählinstanz installiert. Antico lässt Hefner vor zwei jungen Playboy-Bunnys in spe die wechselhaften Karrieren von Page und Lovelace entfalten, um die beiden noch zögernden Frauen – zumindest vorgeblich – an die Kehrseiten des Geschäfts zu erinnern.
„Mädchen, habt ihr überhaupt eine Ahnung, worauf ihr euch einlasst?“, fragt er mit breitem jovialen Grinsen auf dem ersten Panel des Buchs. Die Szene zeigt ihn allein, ausgestattet mit Pfeife und Bademantel. Am Ende von Nine Anticos gezeichneter Reise in die Hefner-Vergangenheit kann man wohl sagen: Nein, haben sie nicht. Aber ein paar Gesetze der Industrie sollten sie dennoch indirekt gelernt haben. Vor allem eines: In der Kultur der Pornografie, die jede Ambivalenz mittels der Illusion eines Images bannt, kann sich ein Aufbegehren nur im Sinne des Marktes und der Kräfte, die ihn beherrschen, artikulieren.
Neben der Ökonomie ist eine dieser Kräfte, das könnte man zur Ausgangsthese von „Coney Island Baby“ erklären, der männliche Blick, der die Lust zum industriellen Produkt verfertigt. So erzählt Anticos Plot im Prinzip von drei Entwicklungen und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit: vom Aufstieg und tiefen Fall zweier Stars ihrer Zunft, von der Geschichte der Pornoindustrie, die abhängig vom technischen und moralischen Standard ihrer Zeit genötigt ist, Mythen über sich und ihre Stars zu erzeugen, und von den Männern, die diese Geschichten und Stars verwalten.
Dass als fiktiver Erzähler ausgerechnet Hugh Hefner mit väterlicher Empathie und großem Bedauern die Leidenswege seiner einstigen Stars ausbreitet, ohne dabei seine Rolle in einer der mächtigsten Schaltstellen dieser Bildproduktionsindustrie zu registrieren, ist weniger ein Zeichen moralischer Entrüstung als ein adäquates Mittel, um die Künstlichkeit der Erzählung zu unterstreichen: Wenn man von einer Welt der Mythen erzählt, fällt es schwer, nicht versehentlich selbst in die Mythenfalle zu tappen und falsche Wahrheiten zu schaffen; besser also, wenn man stets daran erinnert wird.
So gleicht sich auch der schwarz-weiße, skizzenhafte Zeichenstil diesem Programm an. Immer wieder fehlen beispielsweise Nase, Mund oder Augen der Figuren. Am ausdrucksstärksten geraten die Mienenspiele oftmals dann, wenn reale bzw. ikonische Bilder zitiert werden, die letztlich einzigen handfesten Zeugnisse, denen man Glauben schenken muss.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz
Nine Antico: Coney Island Baby
Aus dem Französischen von Martin Budde.
Edition Moderne, Zürich 2011, 232 Seiten, 28 Euro
(Alle Bilder: © Edition Moderne)