Autobiographische Graphic Novels erschienen in den letzten Jahren zuhauf: über die erste Liebe, das elende Aufwachsen auf dem Dorf, die Zeit an der Kunsthochschule, die Flucht in eine Punkerjugend, über tote Väter, lebende Mütter, Kreativitätskrisen, Pornosüchte oder Vorzüge der Prostitution. Der italienische Zeichner Gipi, bereits 2006 mit dem Comic-Oscar („Bestes Album“) auf dem Comicfestival Angoulême für seine beeindruckend aquarellierten „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte“ ausgezeichnet, erforscht mit seinem Beitrag „MSGL – Mein schlecht gezeichnetes Leben“ also nicht unbedingt Neuland.
Wer überdies eine den Vorgängerwerken ebenbürtige Optik erwartet hat, könnte enttäuscht werden. Von wenigen Fantasiesequenzen abgesehen, wurde der eigenwillige Aquarellstil durch außerordentlich schlichte, schwarzweiße Skizzen ersetzt, vom Text deutlich dominiert. Da will jemand erzählen, von sich, und augenscheinlich soll kein opulentes Handwerk von den Worten ablenken. Es ist keine Aufstiegsgeschichte in den Salon der internationalen Comicstars, zu denen Gipi heute fraglos zählt. Es ist ein Blick zurück auf die Jugend mit den Augen des Erwachsenen und ein Blick auf das Erwachsensein mit der Wut eines Jugendlichen, und weil die Neigung, den eigenen Lebensweg als Folge kausaler Prozesse zu begreifen, viel Lug und Trug in sich birgt, eher Ausdruck von Erzähl- und Lebensstationssortierzwängen ist, verzichtet Gipi auf jede Ordnung und arrangiert sein Material assoziativ, episodisch, manchmal auch fernab der logischen Regeln irgendeines Realismus. Das ist mitunter knallhart und schonungslos selbsthassend, aber bevor die Authentizitätsfalle zuschnappt, sät Gipi lieber selbst Zweifel und lässt bspw. in einem Gespräch mit seiner Schwester, wenn auch scherzhaft, seine Sicht korrigieren („Er hatte doch eine Pistole, oder?“ – „Einen Blumenstrauss.“). Ein recht galliger Scherz, denn was die beiden diskutieren, ist wahrscheinlich die Erinnerung an eine gemeinsame Missbrauchserfahrung.
An Drastik mangelt es ohnehin nicht: Da wird ein Junge im Spiel mehr oder weniger versehentlich ins Feuer geworfen (Was wohl aus ihm wurde?), da stürzen Drogenexperimente den jungen Gipi über mehrere Monate in eine schwere Psychose, da reiht sich ein zehntägiger Knastbesuch an vielleicht jugendpathetische, aber eben doch blutige Suizidversuche und über allem thront der schwarze Mann, der, so könnte eine Wahrheit aussehen, nachts ins Kinderzimmer gestiegen ist, um das Geschwisterpaar zu vergewaltigen. Zwischen all diesen Ereignissen verschiebt sich die erzählerische Sicherheit: Mal spricht Gipi zu den Leser/innen, mal zu einem seiner Ärzte, der ihn sogar nachts aufsucht, recht gelangweilt wie stümperhaft fragend Gipis Ausführungen folgt und offensichtlich ganz andere Absichten hegt. Fast möchte man glauben, sein desinteressierter Gestus diente Gipis Selbstqual als prophylaktische Immunisierung gegen die Angst, die Leser/innen könnten ähnlich reagieren. Schlechte Medizin. Unter all den autobiographischen Versuchen der vergangenen Jahre ist dies gewiss einer der konzeptionell kompaktesten und verstörendsten. Hat die Falle also doch noch zugeschnappt.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Junge Welt
Gipi: „MSGL. Mein schlecht gezeichnetes Leben“
Aus dem Italienischen von Giovanni Peduto.
Berlin 2015, Reprodukt, 144 Seiten, 20 Euro
(Alle Bilder: © Reprodukt)