Für Robinson Crusoe bedeutete der Fußabdruck am Strand der Insel, auf der er sich eigentlich alleine wähnte, zunächst einmal: Gefahr. Wie sich bald herausstellt: eine kannibalische Gefahr. Die Spuren des wilden Menschenfressers lassen sich in der westlichen Kultur bis in ihre ersten überlieferten Schriftzeugnisse zurückverfolgen: Von Homer und Herodot in der Antike, über die Berichte der „Entdecker“ und Eroberer aus der „Neuen Welt“ ab Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, bis zur Populärkultur des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts, in der sich die Kannibalen-Figur – in immer weiter ausdifferenzierter Form – großer Beliebtheit erfreut.
Braucht jede Zivilisation eine Vorstellung der Barbarei, um sich in Abgrenzung von dieser ihrer eigenen Identität zu versichern, so ist eines der gängigen Stigmata zur Kennzeichnung (und Abwertung) von Alterität im Abendland die Anthropophagie. An den Rändern der bekannten Welt, sei es im alten Griechenland, sei es im Europa der Renaissance, da lebten, so wurde immer wieder behauptet und nie bewiesen, Stämme oder Völker, die gewohnheitsmäßig Menschenfleisch verzehrten. Eine Vorstellung, die von jeher westlicher Moral und (Ess-)Kultur zu widersprechen schien, ein Tabu. Andererseits aber wohl auch eine Vorstellung, die dem Kolonialismus dazu diente, durch die (behauptete) Unmenschlichkeit der anderen die Eigene zu rechtfertigen. Wer so unzivilisiert ist, dass er das Fleisch anderer Menschen isst, der muss „zivilisiert“ werden – auch wenn es sein Leben kostet.
In den letzten Jahrzehnten ist dieses Phänomen, wohl nicht zuletzt durch das Aufkommen neuer Studienrichtungen wie den race- oder post colonial studies in der geisteswissenschaftlichen Forschung, kontrovers diskutiert worden. Paul Droglas Studie „Vom Fressen und Gefressenwerden“ nimmt Bezug auf diesen Diskurs, indem er zunächst das Thema genau absteckt, dann aber genreübergreifend untersucht. Es geht um den nativen Kannibalismus, in Abgrenzung etwa von Hunger-Kannibalismus oder „kultivierten“ kannibalischen Serien-Killern à la Hannibal Lecter. Die Darstellung soll ausschließlich im Medium Film untersucht werden, hier aber über den Tellerrand des Horror- und Thriller-Genres hinaus. Eine der zentralen Thesen, die dadurch belegt werden soll, lautet, „dass sich ein kolonialistisches Phantasma durch konstante filmische Rezeption zu einem eigenständigen, funktionalisierten und genre-übergreifenden Motiv entwickelt hat“.
Drogla untersucht zunächst kurz die Entwicklung des Motivs in Texten aus dem Europa der Antike und der frühen Neuzeit. Gerade die Eroberung Amerikas stelle auch für die kulturell vermittelte Vorstellung des Kannibalen eine „elementare Zäsur [dar], die bis heute nachwirkt.“ Dass das Wort cannibales auf Kolumbus zurückgeht, übrigens wohl als Produkt sprachlicher und kultureller Missverständnisse, und den bereits in der Antike geprägten Begriff der Anthropophagie im neueren Sprachgebrauch weitestgehend abgelöst hat, ist bezeichnend.
Nach dieser Vorarbeit unterscheidet Drogla sechs Kategorien in der Darstellung des wilden Kannibalen im Film, die er von den Anfängen der Filmgeschichte bis in die Gegenwart verfolgt. Zunächst das „Freitags-Stereotyp“, das sich auf die gleichnamige Figur in Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“ bezieht, ein wilder Kannibale, der zum treuen Diener der Titelfigur wird. Bearbeitungen dieses letztlich in seiner Unterwürfigkeit, seiner „Zivilisierbarkeit“ durch das koloniale Subjekt positiv aufgefassten Menschenfressers finden sich in den diversen filmischen Adaptionen, aber auch in den Robinsonaden, die die Schiffsbruchthematik aufgreifen.
Dann eine „vielseitige und individuelle Interpretation des wilden Menschenfressers auf fiktionaler Basis mit vereinzelter ethnologischer Realitätsnahe“, überwiegend im Abenteuerfilm. Als drittes das „Cartoon- und Comedy-Klischee oder auch [der] Komödien-Kannibale“, den man vor allem in Abenteuerkomödien oder Zeichentrickfilmen antrifft. Die vierte ist „eine pseudo-dokumentarisch inszenierte Variante, die auf die Attraktion von Nacktheit und Gewalt aus ist.“ Drogla zeigt, dass diese schon in der Stummfilmzeit dazu diente, um durch ein behauptetes dokumentarisches Anliegen Zensurbestimmungen zu umgehen, und „exotische“ nackte Menschen auf die Leinwand bringen zu können. Aufgegriffen wurde diese Variante ab Beginn der Sechziger in den sensationalistischen Mondo-Filmen. Das sich in den frühen Siebzigern in Italien herausbildende und sich in den folgenden Jahren im Bahnhofskino einiger Beliebtheit erfreuende Sub-Genre des Kannibalenfilms, biete, so Drogla, eine „rohe Bestien-ähnliche und vertierte [fünfte] Variante, die frei von nahezu jeder Kultur [ist] und in Kombination mit extremen Gewaltexzessen inszeniert wird.“ Schließlich, vor allem im historischen und historisierenden Film, gebe es „eine historisch fundierte, wenn auch nicht einwandfrei realistische Variante, zumeist basierend auf Reiseberichten und entsprechenden Interpretationen.“
Drogla weist darauf hin, dass die Schnittmengen zwischen diesen Kategorien groß sind und sie überdies von einer „rassistischen Komponente“ geeint werden. Dann widmet er jeder der Kategorien ein eigenes Kapitel, in dem er sie mit einer Vielzahl von Filmen zu untermauern sucht, wobei es ihm eher um die Analyse des Motivs als um die des jeweiligen Films als Ganzes geht.
Dabei zeigt er einerseits, wie die Darstellung des Kannibalen repetitiv und erweiternd fortgeschrieben wird, sucht jedoch auch immer nach Beispielen, die von dem Versuch zeugen, das stereotype Kannibalen-Motiv zu unterwandern oder zu dekonstruieren. Etwa in „Man Friday“ (Regie: Jack Gold, USA 1975), einer Robinson Crusoe-Adaption, die nicht mehr aus der Perspektive Robinsons, sondern aus der Freitags erzählt wird. „Der Kannibale ist hier viel eher der Zivilisierte, wirkt im direkten Vergleich zu Robinson erhaben und weise und wird zu einem Idealbild des Menschen geformt, der uneigennützig und genügsam agiert.“ (Leider habe ich den Film nicht gesehen. Mir scheint aber nach Droglas Ausführungen, dass er Anschluss an das Blaxploitation-Kino der Siebziger sucht, das, ganz kurz gesagt, allerlei Genres mit schwarzen Protagonisten und afroamerikanischer Populärkultur, vor allem Musik und Mode, variierte. Auf diesen Zusammenhang, der sich schon durch die Besetzung Freitags mit „Shaft“-Star Richard Roundtree herstellen lässt, und der durch die Verbindung der filmischen Inszenierung von „Rasse“ mit dem Kannibalen-Motiv interessant wird, geht Drogla leider nicht ein.)
Die beliebte Zeichentrick-Serie „The Simpsons“ greift in der Figur des Sideshow Mel das Stereotyp des Comic-Kannibalen durch äußere Attribute, z.B. den Knochen im Haar auf, um es auf vielfältige Weise zu verkehren und ad absurdum zu führen. Im Kapitel zum Kannibalenfilm widmet sich Drogla einige Seiten lang Ruggero Deodatos „Cannibal Holocaust“, der erfolgreichste und bekannteste Vertreter dieser Gattung und der einzige, der, nach Ansicht des Autors, „einer intensiven Analyse wert ist.“ Deodato verbindet in seinem – auch unter Splatter-Aficionados bis heute heftig umstrittenen – Film die buchstäbliche Ausschlachtung blutrünstiger Schauwerte mit einer sehr gekonnten, auf größtmögliche Authentizität abzielenden Inszenierung und allerlei medien- und zivilisationskritischen Diskursen. Drogla schreibt dazu: „Das Schicksal der Expeditionsteilnehmer [die zuerst unter einem kannibalischen Stamm im Amazonas ein Massaker anrichten, diesem dann selbst zum Opfer fallen] ist dem Zuschauer von Anfang an bewusst“. Der Film ziehe also „ein Gros seines Spannungspotenzials nur noch aus der Neugier des Rezipienten und aus dem unbedingten Willen, das grausame Mahl auch tatsächlich zu sehen. Auf diese Weise wird jedoch dem Betrachter seine eigene Gier nach dem Inneren anderer Menschen vorgeführt. Das Fleisch anderer wird hier durch Schauen verzehrt. Deodato legte offen, dass jeder, der seinen Film bis zum Ende ansieht, einen kannibalischen Akt vollführt. Und natürlich provoziert er durch die extreme Härte des Finales Entsetzen. Er ruft ein Grauen über die Fähigkeit des Menschen, anderen Menschen bereitwillig und existenziell zu schaden, hervor und schafft so einen Film, der lange nachwirkt.“ Im Hinblick darauf, dass die Darstellung der gezeigten Stämme wesentlich differenzierter ausfällt als in anderen Genre-Vertretern schließt Drogla, „dass ‚Cannibal Holocaust‘ der einzige Kannibalenfilm zu sein scheint, der nicht nur das Fleisch, sondern auch den dazugehörigen, zumindest anfangs unversehrten, Menschen in den Fokus rückt.“
In einem Exkurs beschäftigt sich Drogla auch mit George A. Romeros „Night of the Living Dead“ von 1968. Romeros Menschenfleisch fressende Zombies sind zwar keine nativen Kannibalen; der „aufsehenerregende […] Tabubruch“ dieses Film stelle jedoch „eine entscheidende Zäsur dar und macht den expliziten Kannibalismus für den Horrorfilm erst zugänglich“, was ihn auch zur Initialzündung für den wenige Jahre später aufkommenden Kannibalenfilm mache. Darüber hinaus radikalisiere Romero das Genre-Kino auch politisch und stelle es in den Dienst einer grimmigen Gesellschaftskritik. Eine Innovation, ohne die, ein Hinweis von mir, auch ein Film wie „Cannibal Holocaust“ kaum denkbar wäre.
Im letzten Kapitel vor dem Fazit untersucht Drogla die Darstellung von Kannibalen in Filmen nach der Jahrtausendwende. Einmal mehr widerspricht er den Ergebnissen bisheriger Arbeiten zum Thema, die konstatieren, dass sich das Motiv in der Gegenwart weitestgehend überlebt habe. Diese zu kurz greifende Auffassung führt er auf die ausschließliche Fokussierung der Forschung auf den Horrorfilm im Allgemeinen und die blutrünstigen Fressorgien des Kannibalenfilms im Besonderen zurück. Er zeigt auf, dass in Filmen wie Peter Jacksons „King Kong“-Remake von 2005 oder dem zweiten Teil der „Fluch der Karibik“-Reihe von 2007 das Kannibalen-Stereotyp nicht nur mühelos den Sprung ins Mainstream-Kino des 21. Jahrhunderts geschafft habe, sondern dessen rassistische Kodierung dabei auch kaum hinterfragt werde.
Drogla schließt mit der Feststellung, dass „das derart verfestigte Kannibalen-Stereotyp bis heute gebraucht und gewollt wird.“ Da sich das Kino von diesem Motiv nicht verabschieden werde, komme die entscheidende Rolle dem Zuschauer zu. „Wichtig ist am Ende, wie der Betrachter den Kannibalen für sich interpretiert und welche Rollen er ihm zuschreibt oder auch: Welche er durch ihn dekonstruieren kann und will.“
„Vom Fressen und Gefressenwerden“ ist insgesamt ein informatives, stilistisch ansprechendes Buch, das einen guten Überblick über die bisherige Forschung gewährt und deren Perspektive mit interessanten eigenen Ansätzen entscheidend erweitert.
Paul Drogla: Vom Fressen und Gefressenwerden. Filmische Rezeption und Re-Inszenierung des wilden Kannibalen
Tectum Verlag, Marburg 2013, 154 Seiten, 19,95 Euro