Wolfgang Nierlin spricht mit Andreas Dresen über seinen neuen Film „Als wir träumten“.
Wolfgang Nierlin: Beschreibt Ihr neuer Film „Als wir träumten“ ein Lebensgefühl, das entscheidend bestimmt wird von einer zeitgeschichtlichen Umbruchsituation, der sogenannten „Wende“?
Andreas Dresen: Es geht um ein Lebensgefühl, das verbunden ist mit einer bestimmten Phase im Leben, die jedem – unabhängig von Region und Zeitepoche – „widerfährt“. Es ist eine Phase des Erwachsenwerdens, in der junge Leute gerne Grenzen austesten und überschreiten, um die Erwachsenenwelt auf die Probe zu stellen. Auf der anderen Seite liegt unter dieser Erzählung vom Erwachsenwerden eine bestimmte historische Folie. Das verschärft die beschriebene Situation, weil der Film in einer Zeit zwischen den Welten spielt, als das alte System der DDR zusammengebrochen war: Die alten Regeln hatten keine Gültigkeit mehr und die neuen waren noch nicht zu sehen, so dass sich ein schier unendliches Reich der Freiheit aufgetan hat. Bezogen auf den Stoff des Films, fällt die Phase der Pubertät und des Erwachsenwerdens zusammen mit dieser gesellschaftlichen Konstellation. Das ist natürlich ein ziemlicher Zündstoff: Die Dinge spitzen sich zu, werden dramatischer, größer und auch großartiger.
Warum haben Sie den konkreten Ort sowie die zeitpolitischen Umstände nur am Rande thematisiert?
Das war nur die Folie, auf der diese Geschichte angesiedelt ist. Auch in Clemens Meyers Roman spielt das nur eine sekundäre Rolle. „Als wir träumten“ ist eine Geschichte über Freundschaft, Liebe und Verrat, über Gangs und vor allen Dingen über das „Herausaltern“ aus der Phase, in der man noch große Träume vom Leben hat. Am Schluss landen die Figuren dann irgendwie in der Erwachsenenwelt. Deswegen hat der Titel auch eine Präteritum-Form. Diese Phase ist irgendwann vorbei. Brecht hat das mal sehr schön in seinem Drama „Im Dickicht der Städte“ gesagt: „Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit.“ Und so könnte man das in dem Fall auch sagen. Letztendlich gibt es eine solche Zeit im Leben jedes Menschen, wenn auch nicht in dieser Extremform. Was natürlich auch davon abhängt, in welchem Milieu man groß wird. Bei mir war das auch nicht so extrem, aber bestimmte Dinge aus dieser Geschichte sind mir natürlich sehr wohl vertraut.
Und wovon träumen die jugendlichen Protagonisten des Films?
Von der Liebe, von ihrem ersten eigenen Techno-Club und davon, dass dort tolle Frauen hinkommen. Sie träumen vom Glück, in geklauten Autos durch nächtliche Straßen zu rasen, sich frei zu fühlen und aus der scheinbar so engen Welt der Leipziger Vorstädte zu fliehen. Und partiell geling ihnen das tatsächlich. Dann fühlen sie sich wie die Könige der Welt. Auch wenn ihre Welt nur eine kleine ist. Aber es gibt schon Momente, in denen sie aufblühen und sich scheinbar das alles realisiert.
Die Jugendlichen werden aber weniger von einer Zukunftsperspektive getrieben als vielmehr vom Leben im Hier und Jetzt. Diese Momente gedehnter Zeit bestimmen auch die filmische Form, in der die lineare Erzählung aufgehoben ist zugunsten eines episodischen Erzählens, das sich inhaltlich wiederum mit dem rauschhaft-ekstatischen Lebensgefühl verbindet. Wie kam es dazu? Ist das schon im Roman angelegt?
Der Roman ist partiell sehr filmisch. Er ist aber auch im klassischen Sinne nicht dramaturgisch gebaut, hat also keine dramatischen Spannungsbögen. Er erzählt tatsächlich in Momentaufnahmen. Das hat natürlich auch mit dem Alter der Protagonisten zu tun, bei denen das Leben im Hier und Jetzt stattfindet. Sie leben im Rausch, fahren mit einem geklauten Auto durch die Nacht und was morgen ist, interessiert sie nicht. Das Leben zu planen oder gestaltend in die Hand zu nehmen, gehört ja auch zum Erwachsenenleben und kommt erst mit dem Älterwerden. Wenn man jung ist, lebt und genießt man den Moment. Ich fand gerade schön, dass es in dieser Erzählung Momente eines scheinbar dramaturgischen Stillstands gibt. Wir haben uns deshalb schon drei Minuten Zeit gelassen, die Jungs einfach nur mit einem geklauten Auto durch die Stadt fahren zu lassen. Und es geht eben nicht darum, ob die geschnappt werden oder nicht, wie es ein klassisches filmdramaturgischen Korsett vorgegeben hätte. Hier geht es nur darum, dass sie diesen Rausch haben und dass sie das erleben. Und später sitzen sie auf der Polizei, aber wie die Polizei sie gekriegt hat, wird nicht erzählt. Das war für den Film uninteressant.
Warum haben Sie diesmal die sozialen Hintergründe, also beispielsweise die Schulverhältnisse und die Elternhäuser, weitgehend ausgespart?
Das hat damit zu tun, dass das in dieser Zeit tatsächlich weniger eine Rolle gespielt hat, also gewissermaßen historisch bedingt ist. In dieser Zeit, Anfang der neunziger Jahre, waren die Erwachsenen einfach schlicht mit sich selbst beschäftigt und größtenteils überfordert. Auch mir ging es so: Ich war Ende Zwanzig, kam von der Filmhochschule und durch die radikal veränderten Lebensverhältnisse im Osten war man mit Krankenversicherungen und nebulösen Schreiben vom Finanzamt beschäftigt, um sein Leben in den Griff zu kriegen. Dazu kam noch, dass sich plötzlich das ganze Schulsystem änderte und die Lehrpläne umgekrempelt wurden. Es gab Diskussionen über schuldhafte Verstrickungen, wenn jemand im Osten Staatsbürgerkunde unterrichtet hat. Und so stand plötzlich die damalige Generation der Jugendlichen allein da. Die Erwachsenen waren in der Zeit, in der sie die Jugend an die Hand hätten nehmen müssen, schlichtweg nicht präsent. Sie glänzten durch Abwesenheit und spielen insofern weder im Roman noch im Film eine Rolle. Weil niemand da war, der die Grenzen hätte aufzeigen können, war aber auch das Reich der Freiheit größer. So konnte man in jenen Jahren gesellschaftliche Räume besetzen. Überall in den Vorstädten gab es Industriebrachen, weil die ganzen Betriebe pleite machten. Das wiederum war eine Sternstunde für diejenigen, die illegal einen Techno-Club eröffnen wollten. Diese schossen wie Pilze aus dem Boden, auch in Berlin. Das war das Zeitgefühl dieser frühen neunziger Jahre. Erst später, so nach und nach, griff die Ordnungsmacht ein.
Woher kommt eigentlich die Wut und Zerstörungslust der Jugendlichen? Mit zunehmendem Drogenkonsum richtet sich diese schließlich immer mehr gegen sie selbst. Ist das auch ein Reflex auf das alte System?
Ja, sicher. Wenn man aus so einer Fürsorgewelt kommt, die dann plötzlich zusammenbricht, als würde man quasi aus dem Aquarium in einen Ozean gekippt, in dem man schwimmen muss, dann ist das wie eine Explosion der Energie oder gedeckelter Kräfte. Plötzlich sind alle Grenzen weg. Doch die Abgründe und Gefahren hinter dieser Freiheit werden für die Protagonisten erst nach und nach sichtbar. Dass zur Freiheit auch die Übernahme von Verantwortung gehört, müssen sie erst noch schmerzhaft erfahren.
Sehen Sie Parallelen zwischen Ihrem und dem kürzlich veröffentlichten Film „Wir sind jung. Wir sind stark“ von Burhan Qurbani?
Was die Handlungszeit und das Alter der Protagonisten betrifft schon, ansonsten sind das aber zwei sehr verschiedene Geschichten, weil sich bei „Wir sind jung. Wir sind stark.“ die Energie dann in eine ganz andere Richtung Bahn bricht. Bei uns geht es mehr um einen Aufbruch in die Welt der Freiheit, während dort das politische Thema im Vordergrund steht. Unsere Jungs wollen dagegen in erster Linie etwas erleben, etwas zu Stande kriegen und provozieren. Das ist also erst auf einer zweiten Ebene politisch. Wir haben zwar auch Nazis im Film, die aber nicht wirklich Nazis sind, sondern eher marodierende Jungs ohne Ideologie. Solche Gruppen waren dazu da, den Jugendlichen in dieser wilden Zeit Halt und Struktur zu geben. Das Politische ging erst später los, als Parteien wie die NPD diese Gruppen unterlaufen und für sich instrumentalisiert haben. Doch am Anfang waren das eher verunsicherte Jungs, die mit Nazisymbolen provozieren wollten, ohne ideologisch zu sein. Man muss das also auch als eine Form der Rebellion verstehen.
Folgen auf den Rausch zwangsläufig die Ernüchterung und damit das Ende der Jugend?
Ja, das ist genau so. Aus Jungs werden Erwachsene und irgendwann sind die Träume der Kinder- und Jugendzeit ausgeträumt. Dann muss man sich irgendwie in die Gesellschaft integrieren oder anpassen. Das machen die Protagonisten ja auch. Am Ende des Films sind sie erwachsen. Ich finde das durchaus nicht deprimierend. So ist eben der Lauf der Dinge. Jede Jugend ist mal zu Ende, und man muss anfangen zu funktionieren in der Welt. Und dann wächst die nächste Generation heran, stellt ihre Fragen, macht ihren Scheiß und provoziert. Aber das ist auch schön, denn ohne Provokation geht die Welt nicht weiter, dann entwickelt sich nichts, dann bleibt alles nur wie es ist. Ich denke, es ist das Privileg der Jugend, loszustürmen, einfach Scheiße zu bauen und die andern zu ärgern. Dann muss man sich als Erwachsener in seiner Angepasstheit auch mal provozieren lassen, auch wenn es die eigenen Kinder sind und es einem nicht passt. An Clemens Meyers Roman mochte ich immer, dass er auch eine kleine Hymne auf Anarchie und Lebenslust ist. Und sei’s drum, dass sich diese Lebenslust dadurch Bahn bricht, dass man im bürgerlichen Sinne einen Haufen Scheiße baut; aber gerade daraus sprechen auch Kraft und Lebenslust.