Mit der Diversifizierung des Comic-Marktes entwickelt sich auch das Themenspektrum in die Breite. Vielleicht erleben Sachcomics deswegen derzeit einen kleinen Boom. Ältere Linke mögen sich daran erinnern, dass der Rowohlt Verlag schon Ende der 1970er Jahre eine ganze Flut an Comiceinsteigerfibeln auf den Markt schmiss („Marx“, „Lenin“, „Freud“, „Mao“, „Trotzki“ etc. „für Anfänger“). Ein ästhetisch recht zweifelhaftes Lesevergnügen, das heute mit ähnlicher Konzeption (von Adorno bis Foucault) vom Wilhelm Fink Verlag fortgeführt wird. Wirklich eigensinnige Versuche wie Scott McClouds kanonisierter Meta-Comic „Comics richtig lesen“, immerhin bereits 1993 erschienen, bleiben Ausnahmeerscheinungen. Oft gewinnt man eher den Eindruck, dass seitens der Macher die Wahl des Mediums mit einer didaktisch grundierten Geringschätzung des selbigen einhergeht: Die Leute lesen keine schwere Bücherkost, also entschlacken wir den Inhalt und reichern ihn mit Bildern an. Holen wir die faulen Leser/innen dort ab, wo sie sind.
Die gleichnamige Marx-Biografie des Knesebeck Verlags (2013) mag da noch durch sympathische Superheldenreferenzen punkten. Die Beiträge in „Die große Transformation“ (Jacoby & Stuart) hingegen, ein Comic über den Klimawandel, der sich 2013 zumindest branchenintern als kleiner Bestseller erwies, vereint all die langweiligen Fehltritte, die in dem Genre widerfahren können: Viel Text, entweder vermittelt von talking heads oder einer „Kamera“, die einer BBC-Doku gleich durch die Schauplätze schwebt, aufgelockert durch Diagramme und Landkarten und koordiniert von einem „Moderator“ – nicht mehr als eine starre Spiegel TV-Reportage ohne Akustik.
Paul Jorion, Ökonom an der Universität in Brüssel und Wirtschaftskolumnist der Le Monde, und Grégory Maklès, französischer Comiczeichner u.a. der World of Warcraft Parodie „Stevostin“, zeigen in ihrer Gemeinschaftsarbeit „Das Überleben der Spezies“, wie es besser geht. Gewiss will das Duo ebenfalls vermitteln, im Zweifel aber lieber agitieren, und aus dieser unverblümten Haltung spricht zutiefst humanistische Sorge. Die bedingt sich aus ihrer zentralen Frage danach, warum und inwiefern der Finanzmarkt-Kapitalismus die Menschheit flächendeckend ins Elend stürzt. Die Antworten sind weniger Theorie denn fatalistischer Witz, arrangiert als andauernder, galliger Assoziationsstrom, in dem Figuren und Schauplätze so schlagartig wechseln wie in den besten Zeichentrickpassagen eines Michael Moore Films.
Da sind zunächst die Arbeitnehmer. „Fast jeder gehört dazu, zu den 99 Prozent. Berufstätig, ehemals berufstätig oder auf Arbeit hoffend. Sie werden gepäppelt, gepflegt und perfekt in Schuss gehalten – so steht es jedenfalls in den Arbeitsverträgen, die sie mit viel Schwung unterzeichnen.“ Visualisiert als Lego-Männchen entwickeln sie allerlei Methoden, um die apokalyptischen Wirtschafts- und Katastrophenmeldungen zu vergessen: noch mehr fernsehen, Familien gründen, Politikern vertrauen, gegen Werbung protestieren. Aber sitzt das Lego-Männchen Das Überleben der Spezies lesend daheim im Sessel, wird es von Schuldgefühlen gequält: zu viel Zeug, Papierverbrauch, Plastiksessel (natürlich ein Lego-Stein) nicht recycelbar. Sein Psychiater kann das larmoyante Klagen nicht mehr hören: „Es liegt nicht an ihnen! Sondern an der Welt!“
Es folgt die Geschichte des Überschuss (in deren Verlauf jenem Menschen, der zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte mittels Kraft und Keule andere für sich die Beeren pflücken lässt, oben auf seinem einsamen Kontrollhügel zwar schnell langweilig wird, aber: „Hauptsache Arbeit.“) und sie endet bei zwei weiteren Akteuren: dem Arbeitgeber (ein grimmiger General) und dem Kapitalisten (der Monopoly-Zylinderträger). Lebenspartner, die sich die Welt so machen, wie sie ihnen am besten gefällt: als Monopoly-Spiel (und so wird auch uns von den zweien fortan das Wirtschaftssystem erklärt). Bevor das naive Lego-Männchen am runden Tisch bei der Verteilung des Überschusses, ein gigantischer Wall aus Geldbündeln, die Internationale anstimmt, halten sie es mit Scherzanrufen als Finanzberater bei Laune und versprechen bombastische Kredite: „Simpel, aber man muss drauf kommen: Man gibt diesem Trottel seinen eigenen Anteil von dem Überschuss, der durch seine zukünftige Arbeit entstehen wird. Und kassiert obendrein noch Zinsen!“
Widerstand? „Wie kann es sein, dass fast die gesamte Menschheit beinahe die gesamte Arbeit erledigt und nahezu den gesamten Überschuss einer Schar von Heißsporen und Zockern überlässt?“ Switch zu einem Pferderennen vor einer Phalanx aus Monopoly-Kapitalisten: Ein Pferd stürzt und verletzt sich. Der Reiter eilt zu Fuß zum Ziel, derweil das Tier vom Richter erschossen wird. „Wenn es um Wettbewerb geht und nicht um Zusammenarbeit, dann ist Mitgefühl weniger gefragt als Effektivität.“
Weil das Kapital ererbt wird, erhält der (noch) zur Poesie neigende Sohn des Monopoly-Männchens schließlich eine Führung über die Schauplätze und Stationen des Marktes und der Macht. Dabei vernehmen sie auch durchaus empörte Stimmen: „Wie sieht es mit einer Erhöhung des Weihnachtsgeldes für die Angestellten aus?“ Aber dem klagenden Anus eines grasenden Rennpferdes schenkt natürlich niemand Gehör.
Jorison und Maklès mögen keine neuen Lesarten des apokalyptischen Weltverlaufs verkünden, aber ihre Wut über das destruktive Wesen des Kapitalismus übersetzen sie in angemessen ätzende Bilder.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Junge Welt
Paul Jorison (Text) / Grégory Maklès (Zeichnungen): Das Überleben der Spezies
Aus dem Französischen von Marcel le Comte.
Egmont Graphic Novel, Köln 2014, 120 Seiten, 24,99 Euro
(Alle Bilder: © Egmont Graphic Novel)