Der dänische Filmemacher Lars von Trier ist selten um eine Provokation verlegen. Das weiß man nicht erst, seit ihn das Filmfestival in Cannes 2011 wegen seiner Sympathiebekundungen für Adolf Hitler zur persona non grata erklärte.
In seinem Film „Idioten“, 1998 nach dem von ihm verfassten Dogma95-Manifest gedreht, war er einer der ersten, die Hardcore-Einstellungen in die europäischen Arthäuser brachte. In „Antichrist“ (2010) wiederholt sich nicht nur das, es gibt darüber hinaus auch eine drastische Szene weiblicher Genitalselbstverstümmelung. Da wunderte es wenig, als von Trier verlauten ließ, dass er mit „Nymph()maniac“ an einer Art Porno arbeitete. Es geht um die Lebensgeschichte der „Nymphomanin“ Joe (Charlotte Gainsbourg), die sie dem alternden „Asexuellen“ Seligman (Stellan Starsgard) erzählt, der sie eines Nachts, übel zugerichtet, in der dunklen Gasse, in der er lebt, findet und zu sich in die Wohnung nimmt. Die Geschichte beginnt bei ihren frühesten Kindheitserinnerungen und endet mit ihrer Begegnung mit Seligman in ihrem fünfzigsten Lebensjahr. Ihr Bericht ist in acht Kapitel unterteilt und dauerte ursprünglich knapp fünf Stunden. Für die Kinoauswertung wurde er um etwa eine Stunde gekürzt und dann als Zweiteiler veröffentlicht. Lars von Trier soll zu seiner Hauptdarstellerin gesagt haben, „Nymph()maniac“ sei „ein Porno, in dem du sehr viel reden musst“.
Nun hat Georg Seeßlen, was seinen Text-Output anbelangt wohl Deutschlands fleißigster Film-, Kultur- und Gesellschaftskritiker der letzten paar Jahrzehnte, ein Buch „(nicht nur) über NYMPHOMANIAC“, sondern (unter anderem auch) über Lars von Trier geschrieben. Wie immer bei Seeßlen geht es ums große Ganze, um einen weit gefassten gesellschaftlichen Kontext, der teilweise die Perspektive auf den Filmemacher und sein Schaffen vorgibt, teilweise sich aber gerade in der Betrachtung des Kunstwerks erst offenbart.
„Lars von Trier goes Porno“ beginnt mit einer Einleitung über die Schwierigkeiten, ein Buch über Lars von Trier zu schreiben: „Denn dieser Filmverrückte oder Verrücktfilmer hat in seinem mittlerweile durchaus umfangreichen Werk mehr als eine Diskurs- und Interpretationsfalle aufgebaut. Hinter jedem entschlüsselten Statement lauert ein grinsender Regisseur, der einem eine lange Nase dreht und sich kaputtlacht.“
Das erste Kapitel stellt die Frage: „Who the fuck is Lars von Trier?“ und gibt eine Vielzahl (möglicher) Antworten. Es erzählt von einem Mann, dem sein „aufklärerische[s], linke[s] und intellektuelle[s] Elternhaus […] als eine Maschinerie zur Unterdrückung von Emotionen“ erschien. Einen Filmemacher und seit der Gründung der Zentropa 1992 auch Filmproduzenten, der mit seinem größtenteils sorgsam in thematische Trilogien unterteilten Werk immer wieder für Aufsehen sorgte, Erfolge bei Kritik und Publikum einheimste, und der doch in keiner seiner Positionen Chancen auf einen „Sympathie-Preis“ hat.
Es folgt „Ein offenes Theorem über Film und Pornografie“, in dem Seeßlen das Phänomen untersucht, warum es so schwierig ist, die Sexualität als „natürlichen“ Teil des Lebens in expliziter Darstellung, also pornographischen oder Hardcore-Szenen, in eine filmische Erzählung zu integrieren. „Die Provokation einer Hardcore-Szene (insbesondere in einem Zusammenhang, der diese nicht als „normal“ erscheinen lässt) ist möglicherweise zugleich geprägt von Lust und Angst, von Angst vor der Lust und Lust an der Angst. Der Blick ist stets das ausgeschlossene und zugleich eingeschlossene Dritte; es gibt keinen Fluchtweg.“ Daraus ergebe sich, dass explizite Darstellungen der Sexualität „in der westlichen Kultur vom Mainstream ausgesperrt und ins Ghetto der Pornografie eingesperrt“ seien, das Bilderverbot erzeuge jedoch ein zwanghaftes Sehen und Zeigen in Form von „“Exhibitionismus“ (Zeigen, was andere nicht sehen wollen) und „Voyeurismus“ (Sehen, was andere nicht zeigen wollen)“. Damit sind zugleich zwei zentrale Begriffe in Seeßlens Überlegungen zur Pornografie etabliert, die in der kapitalistischen Aneignung der Sexualität doch immer in einem Missverhältnis zueinander stehen müssen: „Der freie Markt ist, auch was die sexuelle Ökonomie anbelangt, eine Illusion.“
Wie das Projekt einer „anderen Pornografie“ aussehen könnte, wird in einem Kapitel zu den „Puzzy Power“-Filmen untersucht. Die vier Pornofilme, die die Zentropa zwischen 1998 und 2005 produzierte, basierten auf einem von Trier’schen Manifest, das unter anderem vorschrieb, dass sie eine Spielfilmhandlung haben müssten und auf fetischisierende Close-Ups und erniedrigende Cumshot-Szenen zu verzichten sei. Seeßlen legt dar, warum die – kommerziell ziemlich erfolgreichen – Filme künstlerisch ziemlich uninteressant sind. Mag man dem Autor darin auch zustimmen, ist dieses Kapitel für mich dennoch das schwächste des Buches. Nur dass die Puzzy Power-Filme per Manifest eine Handlung haben müssen, bedeutet nicht, dass es sonderlich viel Freude oder Erkenntnis bringen würde, seitenlange Inhaltsangaben von Porno-Filmen, und seien sie noch so gut gemeint, zu lesen.
Wenn es dann in der zweiten Hälfte um die Filme Lars von Triers im allgemeinen und „Nymph()maniac“ im besonderen geht, scheint Seeßlens Buch ganz zu sich zu kommen. Zunächst widmet er sich den Frauenfiguren in „Trier-Country“. Dabei legt er besonderes Augenmerk auf die wiederkehrende Inszenierung der Frau als weiblichem Christus, die unter anderem auch eine „subtile Form des cineastischen Selbstportraits“ sei. Dem oft erhobenen Misogynie-Vorwurf, ob dieser Darstellung der Frauen als Opfer, oder der Frauen, die zu Opfern werden, in einer Entmachtung, bei der sie den Blick und die Sprache verlieren, begegnet Seeßlen unter anderem mit der Feststellung, aus von Triers Filme werde „so deutlich wie sonst selten, wie Blick und Sprache (männliche) Macht konstituieren.“ Zentral in der Auseinandersetzung mit dem von Trier’schen Frauenbild sind die Begriffe von „sacrifice (der selbstgewählten oder möglicherweise auch von einer höheren Macht bestimmten Hingabe an Schmerz, Leid und Tod zum Zwecke einer Rettung oder Erlösung anderer) und als victim (dem möglicherweise zufälligen, möglicherweise aufgrund bestimmter „Opfer-Eigenschaften“ ausgewählten Objekt von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch)“. Vom victim zum sacrifice zu werden, also auch vom Subjekt zum Objekt der „Opferung“, scheint für die von Trier-Frau auch eine, natürlich denkbar düstere, Form der Ermächtigung, zum Bespiel in der Szene in „Nymph()maniac“, in der Joe in einer Selbsthilfegruppe für Sex-Süchtige auf ihrer Bezeichnung als Nymphomanin (sacrifice) gegenüber dem victim der Sexsüchtigen besteht.
Das nächste Kapitel untersucht die Entwicklungen bestimmter Motive von „Antichrist“ zu „Nymph()maniac“, der beiden Filme, die mit „Melancholia“ als Mittelteil die sogenannte Trilogie der Depressionen bilden. Ausgehend von der These, dass es für von Trier immer darum gehe, „unter das naturwissenschaftliche Bild der Welt zu gelangen, auf das wir uns geeinigt haben, oder aber auch dahinter“, spürt Seeßlen ein weiteres zentrales Motiv im Schaffen von Triers auf: „Die männliche Wissenschaft im Kampf gegen die weibliche Spiritualität.“ Die Überlegungen hierzu beziehen sowohl die mythische Gestalt der Nymphe mit ein als auch eine erste Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Nymphomanie“. Wobei es, so Seeßlen, einmal mehr zu kurz greife, die Bemühungen des Mannes durch die Wissenschaft, der weiblichen Sexualität habhaft zu werden, sie zu unterdrücken und zu kontrollieren, als rein misogynes Unterfangen zu deuten, gehe es von Trier doch immer dezidiert um das Scheitern dieser Versuche.
Schließlich befasst sich das letzte Kapitel ganz mit „Nymph()maniac“. Der Teilung des Films gemäß ist es in zwei „Passagen“ untergliedert. In der ersten gibt es eine akribische Analyse und Interpretation des Films. Die zweite geht ihn noch einmal, systematisch, Kapitel für Kapitel durch.
„Nymph()maniac“ sei, so der Autor, kein Spielfilm, sondern ein Essay: „Lars von Trier erzählt keine Geschichte und behandelt kein Thema. Er lässt narrative, musikalische, ikonografische, mathematische, semantische, gestisch-mimische, religiöse, philosophische und emotionale Systeme miteinander reagieren. Miteinander kollidieren, um genau zu sein.“ So vielfältig wie die Bezugssysteme, in denen sich der Film bewegt, so vielfältig sind auch Seeßlens Ansätze, ihn zu entschlüsseln. Neben dem Bezug zum bisherigen Schaffen des Regisseurs, zur „echten“ Pornografie und zur Religion, untersucht er auch die Musik, von Bach über Rammstein bis zur von Charlotte Gainsbourg gesungenen Version von „Hey Joe“ im Abspann, ebenso die Bezüge zu Klassikern der Weltliteratur wie „Geschichten aus 1001 Nacht“ oder Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“. Kein Detail, das nicht für die Interpretation „verwertbar“ gemacht werden würde, von der Klammer in der Schreibweise des Titels über die Kapitelstruktur und die Tagline: „Forget about Love“ bis zu den unterschiedlichen Schnittfassungen des Films.
Die für mich wohl interessanteste der interpretatorischen Schneisen, die das Buch durch den Film zieht, beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Sexualität, Sprache und Identität. Seeßlen schreibt: „Der Zwang in Joe, so scheint es, ist weniger die Sexualität als das Sprechen.“ Und: „Joe […] sucht von Anfang an nicht Lust, sondern Identität.“ Wenn eine wichtige Funktion der Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft darin bestehe, Identität zu konstruieren („Ich liebe, ich begehre, also bin ICH.“), handle „Nymph()maniac“ auch davon, wie Sexualität zu einem der letzten Identitätsstifter überhaupt geworden sei. Joes Krise, als sie sich verliebt und, weil Liebe und Sexualität für sie nur als Antagonisten denkbar sind, keine sexuelle Lust mehr spüren kann, wird damit auch und vor allem zu einer Identitätskrise: „Das Gefühl „da unten“ nichts mehr zu spüren, die Scham nicht, das Geschlecht nicht, die Identität nicht.“ Unter der genuin von Trier‘schen Prämisse, „dass es weniger die Sexualität als vielmehr eben die Liebe ist, die Verbindung von beidem ohnehin, welche Macht, Ausbeutung und Unterdrückung generiert“, erscheine die „Nymphomanin“ als „Freiheitskämpferin“ für einen „Radikalsubjektivismus“: „Jeder ist er selbst. Und Joe ist nicht wie die anderen.“ „Joe will ja keine „Frau“ werden, „wie es sich gehört“, oder „wie es sein soll“, sondern ein Subjekt (der Lust), ganz und gar einzeln und einzig.“ Indem er das Scheitern dieses Lebensmodells zeigt, so folgert Seeßlen am Schluss, stelle sich Von Trier der „Pornografisierung (eines Lebens, des Lebens)“ und darin scheitere auch das von ihm selbst immer wieder versuchte Projekt, Hardcore-Szenen in einen Spielfilm zu integrieren: „Die radikale Pornografisierung eines Körpers führt so zwangsläufig zur Zerstörung dieses Körpers, wie die radikale Pornografisierung einer Erzählung zwangsläufig zur Zerstörung dieser Erzählung selbst führt.“
„Nymph()maniac“ werde so zu einem Werk grundlegender Negation, ein Film darüber, wie sich die Menschen weder in der Sexualität noch in der Sprache noch im Akt des Filmemachens „näher kommen“ können: „Es gibt keine „Geschlechterbeziehungen“, keinen „Geschlechtsverkehr“. Es gibt Schwänze, Münder, Mösen, Ärsche. Löcher. Und Gesichter, auf denen sich abzeichnet, wie man durch Lust sich voneinander trennt, statt sich zu vereinen. […] So wenig wie es einen Geschlechtsverkehr gibt, so wenig gibt es ein Gespräch. Weder das zwischen Film und Zuschauer (NYMPHOMANIAC ist auch ein Film über die Sinnlosigkeit, Filme zu machen) noch das zwischen den Protagonisten.“
Dem Buch, das bei Bertz+Fischer als siebter Band der Reihe „Sexual Politics“ erschien, merkt man – wie vielen Seeßlen-Texten – an, dass es ziemlich schnell geschrieben wurde. Immer wieder entsteht ein Gefühl der Redundanz und auch die Strukturierung leuchtet mir nicht immer ein. Das ändert nichts daran, dass Georg Seeßlen mit dem umfassenden Theorie- und Gedankengebäude von „Lars von Trier goes Porno“ ein zukünftiges Standardwerk in der deutschsprachigen von Trier-Rezeption geschaffen hat – und vielleicht darüber hinaus im hiesigen akademischen Diskurs über Pornografie. Ein Buch ganz bestimmt nicht nur über „Nymphomaniac“.
Georg Seeßlen: Lars von Trier goes Porno
Bertz+Fischer, Berlin 2014, 224 Seiten, 12,90 Euro