Als 1979 François Bourgeons erstes Album der insgesamt fünfbändigen Reihe „Reisende im Wind“ erschien, kam dies einer kleinen Revolution im frankobelgischen Comic gleich. Da war zunächst die ungewöhnliche Form, die den bis dato geltenden Seitenumfang von 48 bzw. 64 Seiten nach eigenem Gusto ausweitete und somit die Erzählung nicht mehr dem Format unterordnete.
Da war zudem die manierierte, sehr filmische Art und Weise des Erzählens selbst. Dominierten bislang starre Seitenarchitekturen die Bande desinèe – den Comic des französischsprachigen Raums – in Form regelrecht normierter Seitengestaltungen und schematischer Streifenanordnungen, nutzte Bourgeon nicht bloß die Montage der Panels zur Stimmungserzeugung, sondern die Komposition der gesamten Seite.
Zu guter Letzt war da natürlich die epische Geschichte um die 17-jährige Isa, die es Ende des 18. Jahrhunderts durch eine dramatische Verwechslung auf ein französisches Kanonenboot verschlägt. Diese Odyssee führt sie schließlich bis nach Afrika, wo sie in schonungsloser Drastik auf die Kehrseite ihrer aufklärerischen Epoche, die Grausamkeit des Kolonialismus und der Sklaverei trifft. Aufgrund seiner jahrelangen Recherchen, die in das detailfreudige Setting einflossen, gelang Bourgeon ein abgründiges Sittengemälde, das trotz der vordergründigen Konzeption als Abenteuererzählung viel über die Machtkonstellationen und Herrschaftsmechanismen, vor allem über die Zurichtung sexueller Identitäten jener Zeit offenbart. Das revoltierende Verhalten Isas verrät keine gesellschaftskritische Agenda, sondern fungiert vielmehr als Schutzwall gegen eine stets präsente, drohende Ohnmacht vor Verhältnissen, deren Unveränderbarkeit buchstäblich und darob umso grausamer ist. All dies erregte einst zahlreiche Diskussionen über die neuen erzählerischen Möglichkeiten des sogenannten Comicromans.
„Reisende im Wind“ zählt längst zu den kanonisierten Klassikern und erhielt beim Splitter Verlag eine Neuauflage, nachdem das Werk jahrelang im deutschsprachigen Raum nur noch antiquarisch erhältlich war. Darüber hinaus hat Bourgeon seinem Werk auch noch einen weiteren, zweibändigen und ebenfalls bei Splitter publizierten Zyklus hinzugefügt. Gut 80 Jahre später im amerikanischen Sezessionskrieg angesiedelt, kombiniert er darin zwei Handlungsstränge, die vornehmlich über die historische Kontinuität des Menschen als Ware und den Krieg als moralischen Ausnahmezustand räsonieren.
Die erste Hälfte gleicht einem materialistisch geerdeten Antiwestern: Nachdem ihr Haus beschlagnahmt wurde, durchquert die junge Isabeau Murrait das Land auf der Suche nach ihrem Bruder. Unterstützung erhält sie von dem französischen Fotografen Quentin Coustans, dessen politische Neutralität während dieser Reise peu à peu zu zerbröckeln droht. In der zweiten Hälfte treffen sie auf Isabeaus Urgroßmutter, jene Isa des ersten Zyklus, die rückblickend ihre weitere Geschichte erzählen wird.
Durch diese Verknüpfung zweier Zeitstränge etabliert Bourgeon eine Linearität historischer Entwicklungen, in der einzig die Tradierung von Herrschaft beständig bleibt: Die Sklaverei und eine unentwegte Atmosphäre der Gewalt begleiten die Versuche beider Frauen, ihre Autonomie und moralische Integrität angesichts fehlender politischer Humanität zu behaupten. Deshalb ist diese Fortsetzung alles andere als ein fragwürdiger Versuch, einem erfolgreichen Konzept noch ein paar halbgare Ideen abzuringen: Methodisch weitet Bourgeon sein Erzählgerüst vom einstigen Sittengemälde zum nunmehr epochalen Abgesang zivilisatorischer Mystifizierung aus.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz
François Bourgeon: Reisende im Wind 6.1 & 6.2
Aus dem Französischen von Tanja Krämling.
Splitter Verlag, Bielefeld 2009/2010, 88/72 Seiten, je 17,80 Euro
(Alle Bilder: © Splitter Verlag)