„Extreme Charaktere in einem extremen Raum“

von Wolfgang Nierlin


Interview von Wolfgang Nierlin mit Nikias Chryssos, dem Regisseur von „Der Bunker“ über Familie als repressives System und und extreme Räume.

Wolfgang Nierlin: In Ihrem Film „Der Bunker“ mischen sich auf unorthodoxe Weise absurde Gesellschaftsparabel und schwarzhumorige Satire, bizarres Horror-Kammerspiel und skurriles Coming-of-Age-Drama. Damit entzieht er sich nicht nur einer vorschnellen Einordnung, sondern steht auch ziemlich einmalig in der gegenwärtigen deutschen Filmlandschaft. Woher stammen Ihre filmischen Vorlieben und Interessen?
Nikias Chryssos: Mir ist wichtig, dass man den Film nicht gleich in eine Genre-Schublade steckt. Da er frei und unabhängig von Filmförderung entstanden ist, musste er auch nicht in ein bestimmtes Genre gepresst werden. Dadurch war es für mich möglich, mit Genre-Versatzstücken, die ich mag, zu spielen. So sieht man dem Film an, dass es viele offene Referenzen und Lesarten gibt. Ich wollte mit verschiedenen Elementen experimentieren und dabei Humor und Abgründiges kombinieren. Da sich meine Interessen vom Horrorfilm bis zur Slapstick-Komödie erstrecken, konnte ich verschiedene Themen integrieren, ohne mich dabei auf eine Sache festlegen zu müssen. Eines dieser Themen ist die antiautoritäre Erziehung von A. S. Neill, dem Gründer der von Schülern selbst verwalteten Summerhill-Schule. Sein Buch „Die grüne Wolke“ war diesbezüglich ein wichtiger Einfluss. Desweiteren interessierten mich an dem Stoff: die Rolle des Studenten, der bestimmte Erwartungen an sich hat und in eine kreative Hölle gerät; ein sehr beengtes Familienleben, in dem man einander ausgeliefert ist und sich gegenseitig nicht entkommen kann; und schließlich Eltern, die nicht erlauben, dass sich das Kind von ihnen löst. Ich wollte mit extremen Charakteren in einem extremen Raum spielen. Am Anfang standen also der Ort und die vier Figuren.

Der titelgebende Bunker ist ein Ort, an dem die Familie ähnlich wie in Giorgos Lanthimos‘ Film „Dogtooth“ auf begrenztem Raum von der Außenwelt isoliert und auf sich selbst zurückgeworfen ist. Fungiert die kammerspielartige Laborsituation als Vergrößerungsglas für die Darstellung von Familien- und Erziehungsstrukturen?
Ja, dadurch entsteht die Möglichkeit, dass man sehr verdichtet erzählen kann; zum anderen waren es pragmatische, die Finanzierung betreffende Gründe. Ich habe also überlegt, wie ich etwas Allgemeingültiges visuell interessant erzählen kann. Und so kam ich auf einen Raum, den ich wie in einem Experiment beobachte. Nicht nur der Film ist eine Art Versuchsanordnung, bei der es darum geht, eine festgefügte, stabile Familienstruktur – wie in Pasolinis „Teorema“ – durch einen Außenstehenden zu irritieren, sondern auch das Filmemachen selbst wurde zum Experiment mit unsicherem Ausgang. Der Bunker war also ein doppeltes Experimentierfeld.

Familie erscheint in Ihrem Film als repressives System. Lernen durch Strafe wird zum probaten Mittel der allgemeinen Lebensertüchtigung. Im Widerspruch dazu hindert die Mutter ihr Kind am Wachsen. Welche Funktion hat in diesem Zusammenhang der studentische Lehrer?
Es gibt Familienstrukturen, in denen es immer einen braucht, an dem die anderen ihre Frustrationen ablassen können, der also gewissermaßen der Sündenbock ist. Der Student verhilft dem Zuschauer aber auch zu einer genaueren Beobachtung des beschriebenen Systems. Der Bunker wiederum steht für ein Paradox: Er symbolisiert einerseits das repressive System selbst, einen höllischen Ort, an dem mit Sexualität belohnt und mit Prügeln bestraft wird; und gleichzeitig markiert er die Abschirmung vor der unsicheren Außenwelt. So schützt die Mutter mit ihrem Klammergriff zwar ihr Kind, nimmt ihm dadurch aber auch die Luft zum Atmen und lässt es keine anderen Erfahrungen machen. Der Junge wird zwar auf die Welt vorbereitet, ist aber nie für sie bereit, weil ihn sein Lernen nicht dafür befähigt. Dadurch bleibt er immer „ungenügend“. Die von den Eltern gesteckten Ziele sind zwar hoch, doch er kann sie nicht erfüllen und ist überfordert. Am Schluss löst er sich zwar, wird aber unvorbereitet in die Welt gelassen. Der Film stellt insofern eine überzogene Version von Familienleben dar und verwendet dafür archaische Bilder.

Sie beschreiben in Ihrem Film traditionelle Rollenbilder in einer gewöhnlichen Familienkonstellation, wobei der Mutter als Verführerin und Intrigantin mit einem Hang zum Übersinnlichen eine besondere Rolle zukommt. Sind die Figuren in ihren jeweiligen Rollen gefangen?
Ich habe die Familie tatsächlich als eine Sekte oder religiöse Gemeinschaft gesehen, in der alle direkt oder indirekt „Heinrich hörig“ sind. Heinrich ist die behauptete Gottheit, mit der die Mutter als einzige kommunizieren kann, wodurch sie die anderen im Griff hat. Dazu kommt noch, dass sie durch Sex die anderen Familienmitglieder belohnt oder aber durch seinen Entzug bestraft. Aus dem Kontakt mit Heinrich gewinnt sie ihre Autorität. Mit ihm kommuniziert sie durch eine offene Stelle an ihrem Bein. Diese ist zugleich ein körperliches Bild für eine Wunde, die nie heilt; beziehungsweise eine Art „Besessenheit“, die von der Mutter allerdings romantisiert wird.

Der ziemlich eigenwillige Humor Ihres Films resultiert einerseits aus der bizarren raum-zeitlichen Verdichtung, andererseits lebt er von ironischen, seltsam elaboriert klingenden Dialogen und einem musikalischen Kontrastprogramm. Zielt das bildungskritisch auf die Nivellierung von Trash und sogenannter Hochkultur?
Ich habe das nicht als Kritik an der Hochkultur empfunden, sondern eher als Gegensatz zwischen der angeblichen Bildung der Familie und ihrer tatsächlichen Ahnungslosigkeit. Dafür steht vor allem die Figur des Vaters. Es ist bizarr und grausam, wenn man sein Kind zur schönsten Musik, die je geschrieben wurde, prügelt. Zugleich steckt in diesem Bild der Widerspruch, dass der Mensch einerseits hohe Kunst schaffen kann, andererseits primitiv und gewalttätig ist. Mir ging es dabei vor allem um den Kontrast.

Foto: © Kataskop Film & GFF / Matthias Reisser