„Ein schwimmendes Mosaik“

von Ulrich Kriest


Ulrich Kriest im Gespräch mit Philp Gröning über „Die Frau des Polizisten“.

Ulrich Kriest: Vorweg möchte ich sagen, dass ich Ihren Film regelrecht genossen habe, weil sein Reichtum einen Sog entwickelt, der in den Bann schlägt und dann doch viel offen lässt, wo man mit sich in den Film einsteigen kann. Merkwürdig scheint mir allein schon die Wahl des Filmtitels. „Die Frau des Polizisten“ – nachdem man den Film gesehen hat, klingt das fast wie über Bande gespielt. „Der Polizist“ oder „Das Kind des Polizisten“ wären ja auch denkbar. Wenn man Ihren Film zum Fernsehspiel runterkürzen würde und die Geschichte konventionell erzählen würde, wäre es komplett langweilig. Weil man das Thema „Häusliche Gewalt“ ja schon hundertmal vorgesetzt bekommen hat.
Philip Gröning: Es wäre total langweilig, weil es keine Erfahrung mehr wäre. Mir gefällt es, dass sie sagen, sie hätten den Film genossen, weil er so spannend ist. Er ist so spannend, weil er so lang ist. Eine Erfahrung im Kino braucht Zeit.

Dafür braucht es aber Verbündete. Wenn man auf Festivals deutsche Filme sieht, sieht man das Programm-Schema der Förderer immer gleich mit. Ein Dreistundenfilm passt da nicht recht rein. Für „das Kind des Polizisten“ muss man ins Kino gehen, oder?
Ja, dafür sollte man schon ins Kino gehen. Zwar wird es den Film sicher auch irgendwann anderswo und vielleicht auch zu einer vernünftigen Zeit zu sehen geben, aber das Kino ist dafür schon der ideale Ort. In Italien lief „Die große Stille“ übrigens bei der RAI zur Primetime. Ich sehe mich ja eher als europäischen Regisseur, aber es stimmt schon, in Deutschland werden solche Filme zu ungewöhnlichen Zeiten gesendet. Warum? Das weiß ich nicht. Ich halte es auch für sehr unvernünftig, weil ein Publikum dafür da ist, wie die Quoten mir zeigen. Wobei ich persönlich noch nicht erlebt habe, dass mir eine Redaktion in die Filmlänge hereingeredet hätte. Ich höre eher: Mach deinen Film! Trotzdem hoffe ich, dass mein Film einen Platz im Kino findet, weil das Kino die intensivste Erfahrung eines zeitbasierten Mediums möglich macht.

Nun ist Ihr Film formal ungewöhnlich. Man braucht fast eine halbe Stunde, bevor man ahnt, worum es gehen könnte. Wenn wir das erste Mal Gewalt sehen, entwickelt sie sich völlig inadäquat aus einer konventionellen Situation heraus. Es passt nicht ins Bild. Deshalb noch einmal zur Eingangsfrage: Ist nicht der junge Polizist der Protagonist?
Durch die Kapitelstruktur setzt sich der Film für jeden Zuschauer in der Erinnerung neu zusammen. Man kann den Polizisten für den Protagonisten halten. Gestern Abend hatte ich eine Kinovorführung, da wurde gesagt, dass die Figur des Polizisten wahnsinnig schwach sei, während die Figur der Frau des Polizisten so genau gezeichnet sei. Das finde ich sehr interessant, weil das offenbar durch die Kapitelstruktur bewirkt wurde.

Interessant ist schon, dass die Figuren so unterschiedlich gezeichnet sind. Während der Polizist durchaus ein Außerhalb der Familie kennt, geht sie komplett in der Mutter-Kind-Dyade auf. In der Geburtstagszene versucht er geradezu aktiv zu verdrängen, dass er ein Kind hat und so zu tun, als könne man noch immer spontan Sex haben.
(lacht)

Er bekommt nicht geregelt, dass die Familie mit einem Kind entschieden umstrukturiert wird, oder? Zehn Jahre später hätte er vielleicht souveräner reagiert, aber zu diesem Zeitpunkt reagiert er noch auffällig auf Verunsicherungen. Inadäquat.
Wurde er verdrängt in der Gunst der Mutter? Weiß ich gar nicht. Die Konstruktion ist ja eher, dass er einen schweren Liebesmangel hat. Bei ihm liegt unter allem eine Verlassenheitsangst. Eine Panik, dass man ihn entwerten könnte. Dieses Verhungertsein schlägt in Panik um, die in Gewalt umschlägt. Ich habe versucht zu zeigen, wie man mit Menschen in seiner Umgebung umgeht: entweder du gibst Liebe weiter oder du gibst Zerstörung weiter! Man gibt immer beides weiter, aber dieser Mann hat einfach zu wenig Liebe erfahren. Der kann nur aufnehmen. Deshalb greift meines Erachtens eine psychologische Erklärung, die davon ausgeht, dass er mit dem Kind nicht klarkommt, zu kurz. Es liegt ein grundsätzlicher Mangel vor.

Das klingt jetzt schwer nach Theweleit …
Keine Ahnung, habe ich nie gelesen. Könnte sein.

Der nicht zu Ende geborene Mann …
Kein Mensch ist jemals zu Ende geboren. Da gefällt mit Gabriel Garcia Marquez‘ „Der Herbst des Patriarchen“ schon besser. Da gibt es die Szene mit dem Tod und dem Patriarchen, der sagt: Moment, jetzt habe ich doch gerade erst verstanden, wie man lebt. Und der Tod sagt: Genau! Weil man verstanden hat, wie man lebt, stirbt man. Das ist der Sinn des Ganzen!

Nun ist der Polizist ein Polizist. Im Presseheft lese ich den schönen Satz, dass ein Polizist eigentlich immer zu spät kommt.
Das ist ein Ergebnis der Recherche. Wenn man mit einem Film anfängt, hat man ganz viele Klischees im Kopf. Wie funktionieren gewalttätige Beziehungen? Wie ist der Alltag eines Polizisten? Dann habe ich dankenswerter die Gelegenheit bekommen, Polizisten bei ihrer Arbeit zu begleiten. Da war ich dann doch überrascht, dass die Arbeit des Polizisten nicht so aussieht wie im Krimi, sondern eher eine Arbeit der großen Ohnmacht ist. Als Kind denkt man ja, dass ein Polizist Macht hat und handelt. Aber de facto kommt ein Polizist immer zu spät. Das fand ich überzeugend, auch, weil es so traurig ist.

Wie korrelieren beide Aspekte? Der gewalttätige Mann und der Polizist? Die Recherche des Berufsbildes und die Recherche der Gewalttätigkeit? Der Film könnte ja auch „Der Mann der Verkäuferin“ heißen.
Der Film richtet sich nicht gegen den Beruf des Polizisten. Man ist nicht gewalttätig, weil man Polizist ist. Und man wird auch nicht Polizist, weil man gewalttätig ist. Ich habe den Polizisten eher aus erzählerischen Gründen gewählt. Unter einem Polizisten kann sich jeder etwas vorstellen. Ich brauche keine Erzählzeit zu verschwenden. Das Schild „Polizist“ auf seinem Hemd sagt alles. Der Moment, wenn die Mutter das Kind weckt, ist der archaische Moment der Mutter. Da braucht man auch nicht mehr zu erzählen. Den Rest der Zeit kann der Zuschauer nachforschen, was der Film mit ihm oder ihr zu tun hat. Das finde ich gut, denn detaillierte soziale Verortungen von Figuren werden immer gern genutzt, um Geschichten abzuwehren. Im Sinne von: das geht mich nichts an.

Dazu ergänzend gefragt: Wie wichtig ist das Set Design der kleinen Wohnung des Paares?
Ha! Ja, das ist ein Wunder der Ausstattung! Wir haben dieses Haus gefunden. Was für ein Grundriss! Einerseits beklemmend, andererseits gar nicht mal so klein. Eigentlich okay für so eine kleine Mittelschichtsfamilie. Dann haben wir viel Arbeit in die Ausstattung investiert. Auch wieder viel recherchiert. Wie sehen die Wohnungen von Frauen, die Gewalterfahrungen gemacht haben, aus? Mein Eindruck: es soll alles gut und ordentlich aussehen. Was mir auch auffiel: ein Mangel an privaten Rückzugsräumen. Das haben wir bedacht – und dann das Haus wirklich komplett umgebaut. Die Decken rausgerissen, damit wir von oben Licht machen konnten, damit 360 Grad-Schwenks möglich wurden. Die Wände wurden durchbrochen, um unmögliche Kameraperspektiven möglich zu machen. Dadurch sollte eine Präsenz des Zuschauers in diesen Räumen erlebbar werden.

Ich empfand die Wohnung aber nicht „Mittelschicht“, sondern eher als ein vollgepacktes, leicht abgewohntes Nest. Roland Klick hat mal erzählt, wie schwierig es ist, Räume realistisch als bewohnt zu gestalten. Der Dreck um den Lichtschalter …
Wie gesagt: Da ist sehr viel umgebaut worden. Türen wurden versetzt. Dann haben wir tapeziert und anschließend patiniert. Zweimal sogar. Weil die Wohnung sah zunächst nur dreckig aus, aber nicht benutzt. Roland Klick hat völlig Recht. Die Szenenbildner haben aber großartige Arbeit geleistet. In einer Wohnung ist der Schmutz ja nicht irgendwo, sondern an ganz bestimmten Stellen. Das hat auch schon etwas mit den Figuren zu tun. Wir haben auf diese Arbeit viel Zeit verwendet und auch den Drehbeginn noch mal verschoben. Wenn das Set nicht fertig ist, gefährdest du deinen Film.

Ermöglicht solch handwerkliche Professionalität einem Film, dafür an Dialog zu sparen? In deutschen Filmen wird ja gerne alles in Dialog aufgelöst. Das sind ja zumeist Filme für Blinde.
(lacht) Das ist eine Erfahrung, die ich von der „großen Stille“ mitgebracht habe. Wenn ich ausführlich Schweigen zeigen will, muss die Materialität der Welt so sein, dass ich als Zuschauer wirklich zuschauen will. Die Drehbuchmanie in Deutschland ist wirklich ein Riesenproblem. In unserem Film gibt es viele offene, leichte Szenen, die nach der Maßgabe einer normalen Drehbuchdramaturgie rausgeschmissen werden würden. Weil es zu dünn scheint, dass eine Mutter ein Kind weckt. Da würde dann noch ein Aspekt dazu gepackt werden, bis der Zuschauer zugetextet ist. Damit wird die herrschende Bedeutungsangst überwunden. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Zuschauer glücklich ist, wenn er einfach mal wahrnehmen darf. Einfach mal gucken, ohne permanent Indizien zu notieren oder die Schuldfrage zu stellen.

Das wird durch die Einteilung in Kapitel unterstrichen. Es gibt gerade keine lineare Eskalationsdramaturgie, sondern ein stetes Atemholen und Neuansetzen. Der letzte Satz der Frau des Polizisten lautet: „Du bist doch gut!“ Dafür gönnt sich der Film insgesamt 17 Minuten Schwarzfilm.
Genau. „Du bist doch auch gut!“ ist ihr letzter Satz. Das hängt mit der Mechanik solcher Beziehungen zusammen. Da sind große Abhängigkeiten im Spiel. Die Scham isoliert. Die beiden sind für einander die ganze Welt. Alles findet innerhalb dieser kleinen Beziehungskugel statt, deshalb können die sich nicht voneinander lösen. Die Hoffnung, dass alles „gut“ wird, begleitet eine gewalttätige Beziehung jeden Tag. Durch die strikte Kapiteleinteilung entsteht ja auch eine virulente Ungewissheit. Man weiß nicht, was als Nächstes kommt. Damit vermittelt sich die Bedrohung, die in periodischer Gewalttätigkeit drin ist.

Es gibt ja Szenen, die völlig rausfallen. Die wirklich überraschen. Wenn er zum Beispiel aus dem Polizeiwagen heraus in die Kamera singt. Er ist ja auch ein netter Kerl.
Er ist auch ein netter Kerl. Ein netter Kerl, der sich bemüht. Der unter Druck steht. Er will alles perfekt machen: ein guter Ehemann, ein guter Vater, ein guter Polizist. Er will perfekt sein, weil er nicht glaubt, dass man ihn allein dafür lieben könnte, dass er existiert. Und das Singen der Lieder, die Mühe, Konzentration und Aufregung erlaubt dem Zuschauer, sich in Gedanken zurück in die eigene Kindheit zu bewegen, als man solche Lieder gemeinsam einübte. Es sind schon Stilisierungen, die von der Verletzlichkeit des Menschen erzählen.

Mich hat besonders das Spiel des Kindes bzw. der Kinder begeistert. Diese Unschuld in Gegenwart der Gewalt skandalisiert den Film und schwächt den Skandal gleichzeitig ab, weil man weiß, dieses Kind bleibt.
Das ist eine Frage der Interpretation. Vielleicht ist das Kind am Schluss auch tot. Vielleicht sind alle drei am Schluss tot. Das habe ich auch schon von Zuschauern gehört. Vielleicht ist der Film auch nur ein Traum? Oder die Erinnerung des Kindes. Das ist das Interessante an der Struktur des Films: Jeder setzt ihn sich so zusammen, wie er es braucht.

Dann habe ich es gebraucht, dass das Kind überlebt.
Super! Dieser Film ist wie ein schwimmendes Mosaik, das sich jeder selbst zusammensetzen kann. Ganz verschieden, offenbar. Der Film wirft viele Fragen auf. Er fragt zum Beispiel, wie man sich als Mensch dazu verhält, dass man lebt und dass andere Menschen auch leben.

Im Presseheft sprechen Sie explizit von der „Tugend der Liebe“. Was ist damit gemeint?
Ich beziehe mich da auf Platon, der irgendwo mal geschrieben hat, Tugend bedeute, das Wertvollste der eigenen Seele schützen. Das bedeutet einerseits, dass jeder Mensch etwas Eigenes hat. Es bedeutet aber auch, dass falsche Tugenden wirklich etwas Vergiftendes haben. Die Mühe, die sich der Polizist gibt, hat etwas Vergiftendes, obwohl er selbst diese Bemühtheit wohl als Tugend bezeichnen würde. Ich nicht.

Sie haben sich eingangs als internationalen Filmemacher bezeichnet. Wenn Sie die Filmlandschaft anschauen: Sehen Sie dort Verbündete? Weil es ja irgendwo auch altmodisch ist.
Filme zu machen?

Solche Filme zu machen.
Da bin ich mir nicht sicher. Ist es altmodisch, ist es experimentell? Mit diesem Film in Venedig in den Wettbewerb eingeladen zu werden, könnte ein Indiz dafür sein, dass manchen dieser Film nicht altmodisch erscheint. Das ist weit nach vorne gedacht. Da ist auch nicht experimentell, also am Rande des Geschehens, sondern steht im Zentrum des Geschehens. Solche Filme bringen das Kino voran. Die deutsche Filmszene ist durch ein Missverständnis zu brav geworden. Viele Leute glauben, dass ihnen die Geldgeber oder Fernsehredaktionen nicht erlauben würden, etwas zu machen. Und deshalb versuchen sie es erst gar nicht, etwas auszuprobieren. In Wirklichkeit würde und wird man auch für mutige Dinge Geld bekommen. Mein Film ist ja auch finanziert worden. Wen ich sehr ernst nehmen kann, ist Pia Marais. Auch, wenn ich ihren letzten Film nicht vollkommen finde, ist sie eine tolle Regisseurin.

Okay, das ist jetzt aber ein überschaubarer Kreis! (lacht)

Christoph Hochhäusler und Benjamin Heisenberg würde ich auch noch dazu zählen.

Noch mal zurück zum Begriff „altmodisch“! Eine A-Festival-Perspektive, sofern wir nicht von der „Berlinale“ sprechen, ist ja schon eine ganz besondere Perspektive, weil der Wettbewerb ein Statement des Kurators ist. Ich dachte eher an die normale Öffentlichkeit, den Kinostart, die Fernsehausstrahlung, den Kulturbetrieb. Ist da die Verbindlichkeit Ihres Films nicht ziemlich »out of fashion«?
Ich denke, dass der neue Film – so wie auch „Die große Stille“ – eine lange Lebensdauer haben wird. Ich denke nicht, dass das ein altmodischer Film ist. Ich glaube, dass das Publikum konsequent unterfordert wird und sich freut, mal etwas Anderes im Wortsinne zu sehen. So, wie Sie ja sagten, dass Sie den Film sehr genossen hätten. Ich spüre das Bedürfnis, andere Erfahrungen machen zu wollen. Dieses Hingeschmissene, wo die Bilder nicht auf der Höhe sind … Sagen wir mal so: letztlich ist es genauso viel Arbeit, einen guten Film zu machen wie es ist, einen schlechten Film zu machen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Foto: © 3L