In der Tintinologie ist man sich einig: Die Anfänge von Hergés kosmopolitischem Duo Tim und Struppi standen unter keinem guten Stern, eher unter dem Banner antikommunistischer Propaganda und rassistischen Irrsinns. Tatsächlich lassen sich vor allem ihre ersten beiden Abenteuer „Tim im Lande der Sowjets“ und „Tim im Kongo“, 1930 und 1931 erstmals erschienen, heute nicht ohne Kotztüten lesen. So ist das eben, heißt es dann, Hergé war auch nur ein Kind seiner Zeit; sein Erbe für den europäischen Comic bleibt unbestritten, und jeder fängt mal dumm an. Die ligne claire entwickelte sich zur Rückversicherung europäischer narrativer und stilistischer Eigenständigkeit gegenüber der Dominanz der amerikanischen comic books, unterschiedliche Gegenwartskünstler wie Jacques Tardi, Seth oder Chris Ware wären ohne die „klare Linie“ kaum denkbar. Anfang 2012 entschied sogar ein Gericht in Brüssel, dass zum Kulturerbe gewachsenes Zeitkolorit rassistische Bilder von Afrikanern sticht, und wies eine Verbotsklage des kongolesischen Studenten Bienvenu Mbutu Mondondo ab. Außerdem sprach doch Hergé selbst von „Jugendsünden“ und veröffentlichte 1946 eine überarbeitete Fassung! Und überhaupt: „Tim und Struppi“-Alben haben sich weltweit etwa 215 Millionen Mal verkauft!
Die jüngst erschienene Sammlung von Anton Kannemeyers Comic- und Illustrationsarbeiten fixiert die kolonialistische Bildpolitik in Hergés Tim im Kongo. Schon das Cover ist, ja, was eigentlich? Parodie? Satire? Dekonstruktion? Punk? Visual history? Jedenfalls eine ligne claire-Variation des ursprünglichen Titelbilds, auf dem Tim und ein schwarzer Handlanger im Auto die Savanne der belgischen Kolonie durchqueren. Aus Tim wurde nun allerdings Kannemeyer, der fahren lässt und Shell- und Texaco-Kisten als Proviant geladen hat; ihre fröhliche Missionstour hinterlässt brennende Hütten, überfahrene Tiere, Verstümmelungen und Leichen. Das Struppi-Äquivalent sitzt nicht auf der Rückbank, sondern attackiert einen einbeinigen Kongolesen, dessen Gesichtszüge mit dicken, roten Lippen sich durch keine individuellen Charakteristika von den weiteren schwarzen Figuren abheben. Wie bei Hergé.
Anton Kannemeyer, der auch unter dem Pseudonym Joe Dog publiziert, ist in Deutschland bislang praktisch unbekannt, das Buch die erste deutsche Übersetzung. Hierzulande reicht seine Prominenz leider nicht einmal für einen Wikipedia-Eintrag, in New York hängt er bereits im Museum of Modern Art. 1967 in Kapstadt, privilegiert durch ein höchst autoritäres weißes Elternhaus, in die Apartheid hineingeboren, lernte er die Protektion der calvinistisch legitimierten Rassentrennung seitens der Buren von der Pike auf. Im Interview mit dem Deutschlandfunk sagt Kannemeyer: „Das einzige, was mir damals Hoffnung oder ein Gefühl gab, dass es neben Elend noch etwas anderes geben könnte, war Tim.“ 1992 gründete er zusammen mit seinem Grafik-Design-Kommilitonen Conrad Botes die Zeitschrift Bitterkomix, die nach wie vor erscheint. Höchste Auflage: gerade mal 4000 Exemplare, aber ausreichend dafür, dass alte Ausgaben mittlerweile zu hohen Sammlerpreisen gehandelt werden. Das nimmt durchaus wunder, weil radikale Gesellschaftskritik im Comic auch außerhalb der kleinen Szene Südafrikas im Regelfall soviel Aufmerksamkeit erwarten kann wie die Neueröffnung eines Bistrocafés in Hildesheim, solange kein Promi das Zepter schwingt. Indes trifft Kannemeyers Arbeit offensichtlich die richtigen. Er erntete Verbote, Drohbriefe, Farbanschläge auf Ausstellungen. Im Nachwort zitiert Jonas Engelmann den Künstler so: „Wenn die Leute sagen: ‚Oh, das ist schön’ und danach deine Arbeiten vergessen, muss das für einen Künstler deprimierend sein. Ich brauche Reaktionen.“
Kannemeyer versucht weder als Weißer eine schwarze Perspektive auf Rassismus zu simulieren, noch will er in seinen „Tim und Struppi“-Satiren die frühen Arbeiten Hergés des Rassismus überführen; der ist eh manifest. Der Zeichner füllt das, was sich in der Vorlage ideologisch in den weißen Zwischenräumen der Panels abspielt, mit den Projektionen der weißen Elite, ihrem Hass, ihren Ängsten und kolonialistischen Machtphantasien, ähnlich verstörend und rabiat, wie man es als Spiel mit dem Autobiografismus von Robert Crumb kennt. Da erschießt Kannemeyer – analog zu Tim, dem selbiges allerdings mit Gazellen widerfährt – auf der Jagd gleich zehn Schwarze, immer in dem ständigen Glauben, seine Beute verfehlt zu haben; man kann sie schließlich nicht unterscheiden. In einer Illustration zitiert er einfach nur die Definitionen der Oxford Wörterbücher für weiß („unbefleckt, rein, makellos, ohne Schuld“) und schwarz („dreckig, jämmerlich, bösartig, roh“). Oder er gießt mit einem Wasserschlauch und mürrischer Miene die afrikanische Landkarte, „fertile land“, der Boden ist gesäumt von Dutzenden erigierten Riesenschwänzen.
Das Leitmotiv ist Gewalt: vor und hinter den Grenzen der Gated Communitys, vor und nach der Apartheid, als Wort und als Tat. In der bizarren Kurzgeschichte „Sonny“ erreicht die Gewalt mit der Familie die kleinste gesellschaftliche Einheit: Ein Vater missbraucht seinen Sohn im abgedunkelten Schlafzimmer, der Sohn flüchtet in den Garten und blickt im letzten Bild von außen durchs Fenster, hinter ihm die Grenze des hohen Zauns, drinnen die symmetrische Ordnung eines bürgerlichen Wohnzimmers. Sein abermals an Tim angelehntes charakterloses Konterfei und seine räumliche Position zwischen zwei Sphären der Gewalt erheben den Jungen zum doppelten character: als Opfer, das durch die Projektionen des Vaters jedes individuellen Ausdrucks beraubt wird, und als Täter, in dessen entindividualisiertem Antlitz sich bereits der autoritätshörige Geist des Rassisten ankündigt. Für Versöhnlichkeit ist in Kannemeyers Bildern kein Raum mehr frei.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/2015
Anton Kannemeyer: Papa in Afrika
Aus dem Englischen von Mathias-Emanuel Hartmann.
Avant Verlag, Berlin 2014, 64 Seiten, 19,95 Euro
(Alle Bilder: © Avant Verlag)