Berlinale 2014 – Notizen und Kritiken

von Redaktion


Metaphysisches Rumoren

von Janis El-Bira

Forum: „Que ta joie demeure“ / „Joy of Man’s Desiring“ (Denis Coté)

Denis Cotés neuer, kaum über eine Stunde langer Film scheint Arbeit in Hegelscher Manier als „Einsicht in die Notwendigkeit“ und eindeutig weniger als Feld von Ausbeutung und Korrumpierung begreifen zu wollen. Lange schauen wir den Maschinen verschiedener Fabriken zu, wie sie stampfen und ächzen, Dampf ausstoßen, schneiden, hämmern und Materialien zusammensetzen. Die Arbeiter an diesen Maschinen erscheinen als deren fleischliche Verlängerung, Zubringer ihrer exorbitanten Leistungsfähigkeit – keinesfalls andersherum. Hier gibt es kein Außen als Gegenwelt zur Arbeit, zumindest nicht bildlich: Wer draußen steht und redet, wird durch die Türrahmen der Fabrik gefilmt; Insekten schwirren hinter milchig-verschmutzten Scheiben im gedämpften Sonnenlicht. Nach einiger Zeit aber scheint Coté allerdings seiner eigenen Prämisse nicht mehr recht trauen zu wollen: Bachs titelgebender Choral „Jesus bleibet meine Freude“ weht ebenso von draußen durch die Szenen wie Gebetsfetzen und schließlich gibt es sogar ein Kind mit Geige, das ein Lächeln auf die Gesichter der Schuftenden zaubert. Es rumort gewaltig metaphysisch zwischen Walzen und Sägen. Nur passen will das leider nicht mehr ganz. (6/10)

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Großes Filmglück

von Janis El-Bira

Panorama: „Xi You“ / „Journey to the West“ (Tsai Ming-liang)

Die Träne, die in der ersten Einstellung über Denis Lavants leinwandfüllendes Gesicht rollt, in der Furche oberhalb der Nase kurz einen kleinen See bildet und schließlich ins andere, das linke Auge hinüberfießt, kommt beinahe schon obszön daher. Sie ereignet sich wie ein Ausbruch an Bewegung gegenüber dem kaum wahrnehmbaren Aufblähen der Nasenlöcher, dem unscheinbaren Auf und Ab der Wangen oder dem Flackern der Pupillen, das zuvor viele Minuten lang die Aufmerksamkeit beansprucht hatte. Der Weg, den die Träne von Auge zu Auge zurücklegt, erscheint wie die Ausgangsbehauptung eines Films, der die Konstitution von Zeit im gerichteten Erleben einer veränderlichen, beweglichen Gegenwart sieht: Die Szene „dauert“, bis die Träne geflossen ist. Darin wirkt Tsais knapp einstündiger Film – Teil seines „Walker“-Projekts, das den Schauspieler Lee Kang-cheng als Mönch gekleidet und extrem verlangsamt verschiedene Orte durchwandern lässt – manchmal fast wie eine Umkehrung einiger Arbeiten James Bennings, bei denen in der vorgegebenen Dauer einer fixen Einstellung geschehen darf, was der Zufall ihr zuträgt. Tsai hingegen scheint zuerst die Bewegung, den Zeitlupenschritt seines Hauptdarstellers, von A nach B durch die Straßen und Plätze Marseilles zu koordinieren, bevor sich der Zufall (Passanten, Autos, Licht und Schatten) an die Fersen der seltsamen Erscheinung heften darf.

Das Großartige und geradezu sprachlosmachend Schöne hieran ist die Verschränkung nicht nur von quasi-dokumentarischem und „gestelltem“ Material, sondern auch jene unterschiedlicher Zeit- und Bewegungsniveaus: In einer unglaublichen Einstellung, wahrscheinlich annähernd fünfzehn Minuten lang, schleicht der Mönch eine überdachte Treppe hinunter. Wir sehen ihn von vorn, wie er oben am Absatz beginnt. Auf der anderen Seite des mittleren Geländers eilen Menschen vorbei, umkreisen ihn, werfen neugierige Blicke herüber (und in die Kamera!), bleiben kurz stehen, machen Fotos vom Mann in der Kutte. Irgendwann, der Mönch hat das untere Treppendrittel erreicht, tritt die Nachmittagssonne hinzu, strahlt fast blendend in den Tunnel. Das Geländer funkelt, eine kleine Corona bildet sich um den Schleichenden und Pollen fliegen, vom Licht getroffen, wie Glühwürmchen durch die Luft. Es ist die zufällige, sublime Coda zu einigen bittersüßen Filmminuten, die nicht allein das „Gehen“ im Vergehen von Zeit wörtlich nehmen, sondern es konkret als ein „Verwesen“ auffassen, dem am schnellsten die flüchtigen Begegnungen entlang der Geh- und Zeitstrecke des Mönchs beiläufig, aber gewiss auf Nimmerwiedersehen anheimfallen. Nur einmal schickt sich (vermeintlich) einer an, die Seiten zu wechseln: Denis Lavant schält sich aus einer Menschengruppe, imitiert präzise den Schritt des Mönchs und geht ihm nach, bis dieser den Bildrand verlassen hat. Ein instabiles Bildzentrum bleibt zurück: Lavant, der den Mönch im Off unverändert nachahmt und dem Betrachter, dessen primärer Orientierungsanhalt unsichtbar geworden ist, das schwindlige Gefühl einer Zeitkonstitution zweiter Hand vermittelt. Die helle Aufregung dieses Augenblicks nimmt man lange, sehr lange mit. (9/10)

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Menschen im Glas

von Nicolai Bühnemann

Forum: „She’s Lost Control“ (Anja Marquardt)

Rhona (Brooke Bloom) arbeitet als Surrogatpartnerin. Sie schläft gegen Bezahlung mit Männern, um ihnen, als Ergänzung einer Psychotherapie, dabei zu helfen, ihre Angst vor Intimität und Körperkontakt zu überwinden. Die Professionalität, mit der sie ihren Job verrichtet, gerät zusehends ins Wanken, als Johnny zu ihr in Behandlung kommt: gutaussehend, klug, beruflich erfolgreich – und in höchstem Maße autoaggressiv. Als Rhona sich in Johnny (Marc Menchaca) verliebt, verliert sie zunehmend die Kontrolle über die Situation.

Regisseurin Anja Marquardt ist in ihrem Regie-Debüt zunächst sichtlich bemüht, jedes gängige „Huren“-Stereotyp zu vermeiden. Rhona ist gebildet, sie kommt aus bürgerlichen Verhältnissen, sie kleidet sich seriös, mitunter geradezu bieder. Psychologisches Einfühlungsvermögen ist für ihren Job wesentlich wichtiger als übermäßig schön, geschweige denn sexy zu sein. Relativ zu Beginn wird in gnadenlosen Großaufnahmen, die jeden Leberfleck sichtbar machen, gezeigt, wie sie sich Injektionen in den Bauch setzt. Ob sie etwa Diabetikerin ist oder doch drogenabhängig, bleibt lange offen. Dass es damit eine ganz andere Bewandtnis hat, erfahren wir viel später. (Ein gutes Beispiel für den Kontrollwahn dieses Films, der den Zuschauer da abholt, wo er ist, nur um ihn dann genau dort hinzubringen, wo er ihn haben möchte). Wenn sie nach ihrer Arbeit gefragt wird, weicht sie aus, bzw. sagt wahrheitsgemäß, dass sie vorhabe, ihren Master zu machen. Die korrekte Berufsbezeichnung „sexual surrogate“ hört man in dem Film genauso wenig wie die Worte „prostitute“, „hooker“ oder jedes andere denkbare Synonym.

In der Unfähigkeit zur Intimität sieht der Film mitnichten ein individualpsychologisches Problem der behandelten Männer. Rhona unterhält sich in verschiedenen Szenen mit einem Mann per Skype. Zunächst könnten wir ihn für einen Klienten halten, dann für einen ziemlich nervigen Ex-Freund, schließlich stellt er sich als ihr Bruder heraus, der ihr mitteilt, ihre Mutter sei verschwunden und sie mehrmals bittet, ihn einmal zu besuchen. Ansonsten bestehen ihre „sozialen Kontakte“ aus Zwiesprachen mit dem Psychiater, dem sie assistiert, ihrer älteren Kollegin (und einzigen Freundin) Irene, unfreundlichen Handwerkern, ihrem Anwalt. Ein hilfloser Versuch, Kontakt zu einer etwas jüngeren Nachbarin aufzubauen. That’s it.
Übrigens: mit den Spritzen friert Rhona ihre Eizellen ein, weil sie vielleicht irgendwann mal Kinder haben möchte. Das Leben als Wartesaal. Warten auf Familie oder Karriere oder Liebe oder irgendwas.

Dass der Film in New York spielt, sieht man eigentlich nur in wenigen Einstellungen: Ein Stück verschwommene Skyline durch ein Fernster gefilmt, die typischen spitz zulaufenden Wassertanks auf den Dächern. Ansonsten: Lange Hotelflure, die Zimmer, in denen Rhona ihrer Arbeit nachgeht, geschmackvoll, steril. Anonyme, monochrome Straßen. Beton, Spiegelungen von Menschen im Glas. Eine gesichtslose und tote Stadt, die vom (filmischen) Großstadtdschungel vergangener Dekaden kaum weiter entfernt sein könnte. Hier wuchert nichts mehr. Alles Leben ist sorgfältig parzelliert, eingetopft wie die Pflanzen auf dem Dach, die Rhona einmal mit Irene pflegt, eingezwängt zwischen Betonwände – wie der Mann, der in einer Szene relativ zu Beginn in einer Ecke onaniert, klein, am unteren Bildrand. Ein durchaus treffendes Bild für den Verlust von Intimität, um den es geht. Überhaupt, wie das „befriedete“ und durchgentrifizierte New York nach Giuliani und 9/11 dargestellt wird, als unwirtlicher und lebensfeindlicher Ort, leuchtet mir durchaus ein. Nur leider ist in diesem Film alles so exakt durchdacht und kontrolliert, dass er sich genausowenig entfalten kann, wie die Menschen in dieser Stadt. Die Frau, die in einer Nicht-Stadt ein Nicht-Leben mit einer Nicht-Arbeit und Nicht-Beziehungen führt, das alles ist viel zu sehr, viel zu eindeutig ausgeklügeltes Konzept, als dass man sich wirklich damit auseinandersetzen müsste.

Dass der Film auf einen Beziehungsversuch zwischen Rhona und Johnny hinaus will, ist schnell klar, dass das nicht gut gehen wird, auch. Allerdings verliert der Film mit dem entscheidenden plot point dann auch zunehmend die Kontrolle über die Botschaft, die ihm doch so am Herzen liegt. Es soll wohl um absolute körperliche und geistige Entfremdung gehen, um eine entmenschlichte Lebenswelt, in der jede Beziehung, die den Warenwert der Menschen und ihrer Körper auf dem Arbeitsmarkt transzendieren würde, keinen Platz hat. Dass das wenig originell ist, ist dabei das kleinere Problem. Das viel größere ist, dass der Film nichts tut, um zu verhindern, dass der Zuschauer es sich wesentlich einfacher macht. Dass er eine andere – nun wieder individualpsychologische – Lesart ermöglicht, nach der der psychisch kranke Mann einfach nur ein gemeingefährlicher Irrer ist, und die Frau, die sich in vollkommen unprofessioneller Weise auf ihn einlässt, auch zumindest ein bisschen selbst schuld ist an der Gewalt, die ihr widerfährt.

Bleibt ein souverän inszenierter und erzählter, aber letzten Endes sehr zwiespältiger Debüt-Film, der guten Ansätzen keinen Raum lässt sich zu entfalten. Wenn die Regisseurin lernt, im entscheidenden Moment die Kontrolle zu behalten und in anderen einfach mal los zu lassen, kann da durchaus noch was kommen. (5/10)

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Eine Wohltat, eine Strafe

von Janis El-Bira

Wettbewerb: „Historia del miedo“ (Benjamin Naishtat)

Eine der schlimmsten Strafen, denen man sich im Kino von Zeit zu Zeit ausgesetzt sieht, sind Filme, die in ihrer konsequenten Verweigerung gegenüber jeder Erwartungshaltung selbst so elendig erwartbar sind. Fast noch schlimmer wird es, wenn die Erwartung, die der Film seinen rundheraus als dämlich gedachten Zuschauern unterstellt, mit einem dumpfen Vorbehalt identifiziert wird, den es unbedingt zu brechen gilt. Nicht ganz so schlimm (aber doch annähernd) ist Benjamin Naishtats argentinisches Spielfilmdebüt „Historia del miedo“, der eine Gesellschaft zeigt, in der die Reichen in einer diffusen Dauerangst vor den vermeintlich gewaltbereiten Armen und Fremden leben. Immer wieder kommt es zu Momenten, in denen jenes dunkel-bedrohliche „Außen“ die Stacheldrahtzäune und Alarmanlagen überwunden zu haben scheint und nun ums Haus schleicht.

Leider geht dem Film auf dem Weg zu seiner finalen Belehrung („Viel Fürchten, wenig Anlass“) auch rein handwerklich derartig die Luft aus, dass es kaum einen Augenblick gibt, in dem so etwas wie eine unheimliche Ambivalenz zum Tragen käme: Denn natürlich ist diese Angst real; in ihr staut und spiegelt sich etwas, das keine Mauer und kein Zaun aussperren können. Doch hier liegen die Karten im Sinne einer Schelte der übersättigten und triebunterdrückenden „upper class“ von vornherein so nervtötend offen auf dem Tisch, dass man sich entweder als Komplize in der Vorführung dieser Abgeschotteten wähnen muss, oder aber in der untergeschobenen Erwartung an den Durchbruch der äußeren Gefahr selbst mit ihnen identifiziert meint. Wer würde da wählen wollen? (3/10)

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Wettbewerb: „Die geliebten Schwestern“ (Dominik Graf)

Natürlich war von Dominik Graf kein gediegenes Schiller-Biopic im selbstverliebten Zuschnitt bildungsbürgerlichen Dichter-und-Denker-Kults zu erwarten gewesen. Dass sein Film über die dreiseitige amour fou zwischen dem Genius, der vom Bett bis zur Schreibstube ein paar Dinge außergewöhnlich gut beherrscht, und den beiden Lengefeld-Schwestern aber derart federnd und in jenem halsbrecherischen Tempo daherkommt, wie es einer jungen Liebe und einer Zeit im Umbruch gleichermaßen gemein ist, das ist eine Wohltat, die ihm in diesem Wettbewerb kaum ein Konkurrent wird nachmachen können.

Dabei ist Grafs Film bei aller Opulenz kein blattvergoldetes „make-believe“ oder hohles Schwelgen in einer untergegangenen Epoche. Eher wird die Künstlichkeit des Unterfangens auch in Gestalt kurioser Wischblenden, frontalen Sprechens in die Kamera und bunter Zwischentitel in Kauf genommen, um so gerade in der ironischen Distanzierung das Wesen der Sache erkennbar machen: Wie alle Liebe im Spiel, im Austesten, im Geschehenlassen und in kleinen Versuchsanordnungen zu keimen beginnt; und wie sie dort auch immer in Gefahr gerät, wo sie mit den Schemata gesellschaftlicher Erwartung und Normierung konfrontiert ist.

Fast einem Wunder gleich ist aber, wie diese Abstraktion nur den Kopf beschäftigt hält, während die Augen sich nicht satt sehen wollen an den minutiös eingefangenen Details der Bewegungen, Gesten, Blicke. Es gibt hier etwas Heiteres, Alertes und Luzides; einen Rausch der Bewegung und geistigen Bewegtheit, wie die Montage ihn mit der Beschleunigung der Buchdrucktechnik und dem Erscheinen tagesaktueller Journale erfolgreich zu analogisieren sucht. Doch immer wird dieser großartige Film wie von einem Sommerwind inmitten aller Hitzigkeit kühl gehalten, transparent und leicht. Ein Fest! (9/10)

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(Bildmaterial: © Berlinale 2014; „Die Geliebten Schwestern“: © Constantin Film)