Die Geschichte des Kinos nahm ihren Anfang bekanntermaßen mit der Einfahrt eines Zuges in den kleinen Bahnhof der südfranzösischen Stadt La Ciotat. Seither sind Film und Eisenbahn eng miteinander verbunden. Man denke nur an „The great train robbery“ (USA 1902; R: Edwin S. Porter) und die Erfindung der Montage, an die waghalsigen Aufnahmen eines Dziga Vertov in „Der Mann mit der Kamera“ (D 1929) und die Lust an der Geschwindigkeit oder an das Westerngenre, an die großartige Eröffnungssequenz von „C’era una volta il West“ (IT, USA 1968; R: Sergio Leone) beispielsweise, die noch einmal ganz konkret mit dem cinematografischen Ursprungsmotiv des ankommenden Zuges spielt.
Eisenbahn und Film sind Traummaschinen und ihre Verbundenheit äußert sich zunächst einmal durch ein ähnliches Dispositiv. Der Zugreisende schaut durch den Rahmen des Fensters in eine in Bewegung versetzte Landschaft, beginnt nachzudenken und zu träumen und nimmt damit den Kinozuschauer vorweg. Von außen wiederum ähneln die vorüberziehenden Fensterreihen den Bildkadern eines Filmstreifens. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden Kino und Zug aber vor allem als Teil eines radikalen Erfahrungswandels zu Sinnbildern der Moderne und der Widerhall des knapp eine Minute dauernden „L’arrivee d’un train à la gare de la Ciotat“ (FRK 1896) der Gebrüder Lumière reicht bis in unsere Zeit. Aus der Tiefe des Bildes näherte sich damals die Eisenbahn in diagonaler Bewegung der Zuschauerin und begründete den Mythos der panikartigen Flucht des Publikums. Was als nie verifizierte Legende in die Filmgeschichte einging, kann in einem allgemeineren Sinne als Reaktion der Menschen auf die umfassenden ökonomischen, sozialen und kulturellen Umwälzungen durch den industriellen Fortschritt und die gleichzeitig entstehende visuelle Massenkultur begriffen werden. Zwar gestattete der rasante Fortschritt eine Erweiterung der Welterfahrungsmöglichkeiten. Doch in gleichem Maße, in dem die Welt näher an den Einzelnen heranrückte, Zwischenräume aufgehoben und die Wahrnehmung von Raum und Zeit vollkommen neu strukturiert wurden, wuchsen in zunehmendem Maße auch Verunsicherung und Desorientierung.
Etwas mehr als 100 Jahre nach „L’arrivee d’un train à la gare de la Ciotat“ greift J.P. Sniadecki in seinem Dokumentarfilm „The Iron Ministry“ das Bild der in die Zukunft rasenden Eisenbahn noch einmal auf. Über einen Zeitraum von drei Jahren (zwischen 2011 und 2013) hat er sich in unterschiedlichsten Zügen der China Railway Corporation durch das „Reich der Mitte“ bewegt. Mehr als 100.000 Kilometer hat er im noch immer wachsenden Streckennetz zurückgelegt und auf diese Weise eine Momentaufnahme der Entwicklung Chinas geschaffen.
Aus der Dunkelheit dringen zu Beginn Geräusche wie aus einem Stahlwerk zum Publikum. Im Faltenbalg zwischen zwei Waggons erwacht der Film schließlich und tastet sich von da an schlaftrunken durch unterschiedlichste Waggons. „The Iron Ministry“ ist ein somnambuler Film. Er verharrt im Limbo des Lebens, erfasst das Land außerhalb des Zuges nur schemenhaft, zerlegt es in experimentelle Bildfolgen, Lichtblitze und Farbflächen, zeigt unendliche Marslandschaften oder Wohnsilos, die sich im Smog der chinesischen Großstädte vor den neugierigen Blicken der Reisenden verstecken. Im Inneren entfalten sich indessen ganz andere eigenwillige Traumlandschaften, wenn ein Junge im überfüllten Abteil eventuell anwesende Terroristen darauf hinweist, dass nun die beste Gelegenheit sei, die Bombe zu zünden, oder wenn im Gang Schweinehälften wie in einer Schlachterei aufgehängt werden. Zentrales Motiv bilden die schlafenden Reisenden an Fenstern, auf Toiletten, an Türen gelehnt und über ihren Koffern hängend. Im Transit des Zuges schlummert das Versprechen anzukommen und ein anderes Leben führen zu können. Ein Versprechen, das heute in immer weitere Ferne rückt, je schneller man sich darauf zu bewegt, aber auch in China der Motor für gigantische Bewegungen ist. Und so sind es die Schlafenden, die Ordnung in die befremdenden Bilder des Reisen bringen.
Wovon die Reisenden in „The Iron Ministry“ träumen, erzählen sie in einigen Dialogen mit anderen Fahrgästen, zu denen sich die unaufdringliche Kamera hinzugesellt, als ob sie ebenfalls nur eine Zigarette im Gang rauchen will, um dem Verharren im Zwischenraum oder dem Schlaf zu entkommen. Der Regisseur selbst bleibt angenehm zurückhaltend, stellt keinen Off-Kommentar bereit, streut nur ab und an eine Frage in die Dialoge. Er mäandert mit der Kamera durch die Waggons und gibt der Zuschauerin so die Möglichkeit ganz und gar selbst Passagier zu sein. Er lässt sie das Gefühl der Erwartung, das der Ankunft des ersten Zuges der Filmgeschichte schon zu Grunde lag, nachfühlen.
Über den Schnitt verbinden sich Sniadeckis Aufnahmen zu einem einzigen Zug, dessen Waggons die sozialen Klassen Chinas aneinander reihen bis es irgendwann nicht mehr weitergeht und eine Glastür oder eine Uniform die Bewegungsfreiheit stoppt. Spätestens hier werden Erinnerungen an die Hierarchien in Bong Joon-hos „Snowpiercer“ (KOR, USA, FRK 2013) wach, wird das Zukunftsversprechen, das bisher in der Bewegungsfreiheit lag, ausgebremst.
Häufig bringen die einfachsten Fragestellungen die schönsten Filme hervor. „The Iron Ministry“ gibt keine Antworten, der Film begibt sich einfach auf die Suche in den Transitraum. Darin liegt seine ganze Stärke. Film, Traum und das Zugfahren gehen hier noch einmal die gleichen Wege: Hinein ins schwarze Unbekannte.