Michael Moore scheint im Alter weich zu werden. Schon vor Jahren, zur Zeit seiner Dokumentarsatiren-Hits Bowling for Columbine' (2002) und Fahrenheit 9/11' (2004) kein Leichtgewicht, ist der Mann mit der Kappe nun etwas gar schwabbelig schlaff geworden. Reduziert sich aus diesem Grund seine markenzeichenhaft scheinnaive Interaktion mit Leuten vor Ort im neuen Film 'Where to Invade Next' weitgehend auf gemütliche Sitzplauscherln? Das dynamisch gemeinte Leitmotiv einer Europa-Eroberungsrundreise, auf der Moore von Frankreich bis Finnland, von Portugal bis Slowenien US-Flaggen aufpflanzt, gibt nicht allzuviel her. Und an Cartoons und Found-Footage-Sequenzen aus alten Lehrfilmen gibts auch weniger als früher.
Weich wird Moore offenbar auch im Ansatz – der quasi lautet: Nicht immer nur negativ nörgeln, auch mal etwas positiv sehen und zeigen. Sein im Dialog mit besuchten Gegenübers forciert gespieltes Staunen, das in seinen Fimen ansonsten den jeweiligen Irrsinn von Amerikas Kapital- und Staatsmacht quittiert, gilt nun allerlei guten Ideen, die er als Invasorenbeute in Europa einheimst: bezahlter Urlaub in Italien, ganzheitliche Schuldbildung in Finnland, hochqualitatives Kantinenessen in öffentlichen Schulen in Frankreich etc. – eine Revue gesamteuropäischer Lösungen (so sagt mensch heute). Diese Lösungen sind hier (zumal für einen linken Filmemacher) viel zu sehr als mentalitäre Vorzüge oder optimierungstechnische Schlaumeierleistungen dargestellt, zu wenig als Resultat von gesellschaftlichen Kämpfen oder von historischer Reformpolitik (die Sozialstaaten der 1970er Jahre). Und um Kontraste zu Amerikas entfesseltem Markt und sozialem Kahlschlag zu betonen, bräuchte es kein derart idyllisiertes Europabild. Wäre Moore ein echter Schelm, dann dächte er bei seinem Deutschlandpanorama mit Happy Hacklern und zuhörenkönnendem Bossen wohl (auch, so wie nicht nur ich unweigerlich) an Hartz IV, Aufstockerjobs und Reichtumsschere. Stattdessen verknüpft er Anblicke wellnessender Bayern mit Hitler- und Holocaust-Archivbildern – um dann Deutschland als Geschichtsschuldkulturmeister und Stolpersteinspezialisten zu feiern, von dem Amerika lernen könne. (Aber wenn möglich, dann nicht von einer Schulpraxis der Holocaust-Vermittlung, die Empathie in von den Nazis deportierte Bevölkerungen durch das Einpacken von Handys und Lieblingsklimbim in symbolische Fluchtkoffer lehrt – wie in einer der von Moore gefeierten Sequenzen zu sehen.)
Zum Rassismus in der US-Geschichte und -Gegenwart gelingen Moore einige Montagen mit passendem Pathos: etwa von Drogenfreigabe in Portugal über die Kriminalisierung von Black Power-Milieus im amerikanischen War on Drugs zum Strafvollzug – liberal in Norwegen, brutal in den USA. Zu beidem, zum Besuch in den freundlichen Zellen und Haftgebäuden hier und den Überwachungskameravideos von uniformierten Misshandlungsorgien dort, lässt Moores Kontrastmontage das Lied 'We Are the World' erklingen, das freundlich-spleenige norwegische Gefängniswärter quasi als Mission-Statement eingesungen haben.
Feministisch angelegt ist der Endspurt des Films, der sich der jüngeren Frauengleichberechtigung in der Politik Islands widmet, sowie jüngsten Kämpfen (gegen islamistische Reaktionäre) um Verfassungsrechte und um die Legalisierung von Abtreibung in Tunesien. Ein bewegender Moment von Wortergreifung ist die kritische Rede einer tunesischen Journalistin und Aktivistin an Amerika, dessen Musik, Mode und Literatur sie so schätze und von dem sie sich im Gegenzug etwas mehr Interesse an ihrer Kultur erwarten würde.
Gegen Ende zieht Moore Lehren, die sich aus seiner Europa- (und Nordafrika-)Bildungsreise für die USA ergeben. Sie fallen durchwegs bemüht optimistisch aus: So darf sich sein notorischer Linkspatriotismus (und jeglicher andere) durch den immer wieder fallenden Hinweis geschmeichelt fühlen, dass die meisten der europäischen Segnungen auf ursprünglich amerikanische Ideen und Projekten beruhen. Na, dann … Außerdem sei es ganz einfach, quasi aus dem Exil in Oz wieder ins gelobte Kansas zurückzukehren, wie Moores Voice-over über eine Szene vom Ende des 'Zauberers von Oz' hinweg sinniert: Offenbar musst du nur wollen, und schon gilt 'Yes, we can!', bzw. bedarf es nur eines Klickens mit den roten Schuhen, und schon – schon ist die Berliner Mauer Geschichte. Vor deren Berliner Ruine spaziert Moore am Ende mit einem alten Kumpel; man erinnert sich fröhlich ans Mauer-Abtragen, damals, und ist sich sicher: Das könne jederzeit wieder geschehen. Schwupp, plötzlich war die Mauer weg: ein Fall von gutem Timing in Sachen historischer Gelegenheiten 1989. Aber ein Fall von schlechtem Timing in Sachen Filmstart 2016: Von den Zäunen, die – Schwupp – plötzlich da waren auf dem so lehrreichen Kontinent, ist in dem vor Monaten, zum Teil wohl auch vor Jahren, gedrehten Film klarerweise nichts zu sehen. Insofern haftet diesem Bild eines Europavolksstreichelzoos etwas doppelt Nostalgisches an.