Kaum ein Begriff ist im populären Film-Diskurs der letzten Jahrzehnte so verwässert worden wie der des Film Noir – scheinbar wird jedem Krimi, Thriller oder anderem Genre-Film, der nicht gerade im kalifornischen Sonnenlicht badet, eine Noir-Verbindung unterstellt, oftmals mehr als diffus. Diese Tendenz schließt an einen klassischen filmwissenschaftlichen Disput an: Dieser dreht sich um die Frage danach, ob es sich bei Noir lediglich um eine 'Schwarze Serie' handelt, also um eine Reihe von Krimis mit bestimmten inhaltlichen und formellen Merkmalen, die zwischen 1941 ('Der Malteser Falke') und 1958 ('Im Zeichen des Bösen') in Hollywood produziert wurde; oder um ein eigenständiges Genre, mit spezieller Ikonographie und Entwicklung, das bis heute neue Vertreter hervorbringt. Die Antwort liegt wie so oft vermutlich im Mittelweg: Kitschige Ausstattungsfilme wie etwa vor Kurzem Ruben Fleischers Gangster Squad' haben trotz ihrer visuellen Annäherung im Grunde nichts mit Film Noir zu tun; Diao Yinans Berlinale-Gewinner 'Feuerwerk am hellichten Tage' hingegen übersetzt bestimmte Elemente des ursprünglichen Genre-Zyklus so subtil und überzeugend in sein gänzlich anderes Setting, dass man durchaus von einem 'echten' neuen Film Noir sprechen kann.
Was aber ist an diesem doch sehr mit seinem chinesischem Schauplatz verwurzelten Film eigentlich 'Noir'? Düstere, schwarz-weiße Tableaus mit messerscharfen Kontrasten und 'Low Key'-Beleuchtung darf man hier jedenfalls nicht erwarten. Ganz im Gegenteil: 'Feuerwerk am hellichten Tage' changiert von heller, grobkörniger Nüchternheit zu Nachtaufnahmen, die von knalligen Neon-Leuchten in traumartiges Licht gehüllt werden. 'Traumartig' ist in diesem Fall der entscheidende Terminus. Denn wo heute oft fälschlicherweise angenommen wird, dass Film Noir, entsprechend seines Ursprungs im Hard Boiled-Detektivroman, durch zynische Gewalttätigkeit charakterisiert sei, gehörte das schöne englische Wort oneiric, zu deutsch in etwa 'traumähnlich', von Anfang an zur Definition des Genres. Die eben nicht realistische, sondern ganz und gar expressionistisch geprägte Konstruktion der Großstadt-Settings war es, die den Look der alten Schwarzen Serie definierte. Straßen, die ins Nichts zu führen scheinen, zackige Fassaden, spitze Winkel – der Einfluss des Weimarer Kinos machte sich deutlich.
So muss auch Diao Yinans Film verstanden werden: Die nie konkret benannte chinesische Stadt des Films basiert auf einer emotionalen Architektur, der mit dem schwammigen Begriff des Realismus nicht beizukommen ist. So entladen sich hier etwa in der Zwischenwelt des Jahrmarkts erotische Spannungen, wird ein gigantischer Neon-Nachtclub zum Ort der Erkenntnis.
Dabei folgt 'Feuerwerk am hellichten Tage' zunächst einer durchaus handfesten Story, die mit verführerischer Eindeutigkeit einen politisch aufgeladenen Thriller zu versprechen scheint. Der Film beginnt mit dem kraftvollen Bild einer abgetrennten Hand in einem Meer aus schwarzer Kohle und dann der Entdeckung der Gliedmaßen durch die verstörten Bergleute beziehungsweise die Polizei. Schnell steht fest, dass ein Mord geschehen ist. Sollte sich der Film tatsächlich in dem eher unsubtilen Kommentar genügen, dass der gemeine chinesische Arbeiter buchstäblich vom monströsen Räderwerk zerkleinert wird?
Schnell wird aber deutlich, dass Yinan einen anderen Weg einschlagen wird als etwa sein Landsmann Jia Zhangke mit dem brutalen Polit-Opus A Touch Of Sin', wohin dieser Weg allerdings führen wird, bleibt bis zum bombastischen Finale des Films schwer einzuschätzen. Schon früh aber streut der Regisseur kleine, verunsichernde Momente ein, die, ohne in surreale Abgründe einzutauchen, die Story nach und nach aus den Angeln heben. In einer frühen, grandiosen Szene etwa lässt die Hauptfigur des Films, der Polizist Zhang, geräuschvoll eine Glasflasche eine lange Treppe hinunter- und somit in die Tiefe der Leinwand hinein rollen. Etwas später steht tatsächlich ein Pferd auf dem Flur. Dann zeigt 'Feuerwerk am hellichten Tage' plötzlich seine Zähne, überrascht mit einer abrupten Schießerei in bester Hongkong-Thriller-Manier und einem fließenden Zeitsprung. Von diesem Punkt an kann man den Film beinahe als eine moderne, chinesische Variante von Howard Hawks‘ Noir-Klassiker 'The Big Sleep' betrachten: Der Plot entfaltet sich zwar einerseits stetig, andererseits aber auch so ruckartig, dass sich zunächst verwirrende Bilder erst einige Minuten später aufklären, andere vielleicht auch gar nicht. Schließlich ist man aber so von der Chemie zwischen Zhang und der mysteriösen Wu Zhizhen, der Frau eines Verdächtigen, gefangen, dass man sich dem sorgfältig konstruierten Fluss des Films bedingungslos hingibt.
Mit einer kühnen Neuinterpretation des zentralen Film-Noir-Motivs der Femme fatale landet Regisseur Yinan dann seinen größten Coup: Wu Zhizhen, von der ein Polizist einmal sagt, jeder der sich ihr nähere, würde ermordet, steht als ambivalente Figur im Zentrum des Plots. In einer der schönsten Szenen dieses visuell berauschenden Films gleitet sie grazil mit erhobenem Kopf und unendlich traurigen Augen über eine Eislaufbahn – eine beinahe überirdische Erscheinung, unmöglich zu durchdringen. So gelingt es dem Film, das zu tun, was seit David Lynchs kreativem Aus niemand mehr versucht hat – Film Noir eben nicht bloß als ikonographische Verkleidung zu verstehen, sondern als düstere, aber eben auch tief romantische Traumlogik, die im krassen Gegensatz zum streberhaften Whodunnit handelsüblicher Krimis steht.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 8/2014