Dem amerikanischen Horrorfilm sind die Ideen ausgegangen. Die Liste der offenen und verdeckten Remakes, der Sequels und Prequels, Relaunches und Updates bekannter Stoffe in den letzten Jahren ist endlos. Aus der Masse der kulturindustriellen Kopien stechen als vergleichsweise originäre Spielart bestenfalls die oft als „torture porn“ abgeurteilten Varianten heraus, die „Hostel“-Filme von Eli Roth (2005/2007) oder die „Saw“-Reihe (2004-2010) etwa. Auf der Suche nach neuen Stoffen hat Hollywood auf asiatische und europäische Genreinnovatoren wie Ryûhei Kitamura („The Midnight Meat Train“; 2008) und Alexandre Aja („Mirrors“; 2008) zurückgegriffen. Mit Christian Alvart durfte sich nun auch ein deutscher Regisseur für die Paramount an einem Horrorfilm versuchen, die abgesehen von Marcus Nispels „Friday the 13th“-Remake von 2009 in den letzten Jahren kaum Genreproduktionen vorzuweisen hat.
Herausgekommen ist auch hier nur ein Potpourri bekannter Motive und mehr oder weniger gelungener Reminiszenzen als ein neuer Impuls für das Genre, das aktuell in Frankreich reüssiert. Wie in „The Omen“ („Das Omen“; 1976; Richard Donner) gibt es ein kleines Kind, süß anzusehen, doch todbringend für seine Bezugspersonen; das Thema der dämonischen Besessenheit ist u. a. in „The Exorcist“ („Der Exorzist“; 1973; William Friedkin), „Ringu“ („Ring“; 1998; Hideo Nakata) und seinen amerikanischen Remakes abgehandelt worden. Mit der Ermittler-Figur von Ian McShane (der großartige Al Swearengen aus der HBO-Serie „Deadwood“) werden Motive des Polizeifilms eingebracht, die Morde selbst sind als set-pieces mit Anklängen an die „Final Destination“-Reihe inszeniert. Und wenn die Kamera Hagen Bogdanskis, der u. a. „Das Leben der Anderen“ (2006; Florian Henckel von Donnersmarck) und „Die Unberührbare“ (2000; Oskar Roehler) fotografiert hat, das Haus einer Unterschichtfamilie erkundet, dann erscheinen die Innenräume wie in jedem x-beliebigen Backwood-Horrorfilm verwittert, mit den obligatorischen korrodierten Flächen, matter Patina, allerlei ungesundem Moder und verdächtigen Schrammen. So entsteht letztlich ein Flickwerk, das ästhetisch durch die Verwendung kalter, blaugrauer Farbtöne zusammengehalten wird, die durch den exzessiven Einsatz von Farbfiltern und durch das Setdesign nahezu alle filmischen Räume bestimmen. Schlaftabletten sind blau, Pappbecher in einer Nervenheilanstalt mit blauem Design bedruckt und Erbsen so blau-grün wie in Scorseses „The Aviator“ (2004). Manchmal wirken die Menschen wie bleiche Zierfische in einem überdimensionierten Aquarium. Und wenn die von Renée Zellweger gespielte Heldin ihr Haus in Brand setzt, dann rettet sie, was auch sonst, lieber ihren Goldfisch als ihr neues, teuflisches Adoptivkind.
Alvart hat früher das Filmmagazin X-TRO herausgegeben und nach seinem Debütfilm „Curiosity & the Cat“ (1999) mit „Antikörper“ (2005) einen deutschen Serienmörderthriller inszeniert. Fraglos kennt er sich mit der Geschichte des Genres aus. Aber ähnlich wie in „Antikörper“ bleibt hier vieles zu offensichtlich, zu durchschaubar, zu sehr auf den Effekt hin angelegt. „Antikörper“ versprach mit einem Dostojewski-Zitat am Anfang, der authentischen dörflichen Szenerie und guten Schauspielerleistungen existenziell Tiefgründiges, um letztlich als halbgare Variation von „The Silence of the Lambs“ („Das Schweigen der Lämmer“; 1991; Jonathan Demme) zu enttäuschen. Auch „Case 39“ erzählt im Kern einen für das Genre eigentlich ungewöhnlichen Stoff. Die Geschichte der Sozialarbeiterin Emily (Zellweger), die unerwartet zur alleinerziehenden Mutter wird, als sie die kleine Lillith (Jodelle Ferland) aufnimmt, ist in einem von teenage angst beherrschten Genre als Allegorie für die Überforderung einer alleinerziehenden Mutter nicht unbedingt ein Allerweltsstoff. Schnell entwickelt sich das kleine Mädchen zur veritablen häuslichen Tyrannin – Nomen est Omen: ein enfant fatal – und Freunde und Bekannte sterben auf mysteriöse Weise. Metaphorisch erzählt Alvart davon, wie der unfreiwilligen Mutter alle sozialen Kontakte wegbrechen, das Leben nur mehr an ihr vorbeirauscht, ganz wörtlich in den Szenen im Büro, in denen er Zeitraffer einsetzt. Bald erscheint jede im nervigen Singsang vorgetragene Bitte als Erpressung, eingeforderte Liebesbekundungen werden mit geheuchelten Notlügen beantwortet; am Ende steht Vereinzelung, häusliche Gewalt und Paranoia. Doch wenn Alvart dann diese Metaebene direkt thematisiert, indem er in Rückblenden von der unglücklichen Kindheit Emilys erzählt, dann vollzieht er keine Wendung zum psychologischen Horror. Es bleibt nur ein halbherziger Versuch und ein Wink mit dem Zaunpfahl für besonders begriffsstutzige Zuschauer. Was zur bösen Variante von „Rosemary’s Baby“ (1968; Roman Polanski) als Geschichte getrübter Wahrnehmung hätte werden können – und damit spielt der Regisseur mehrmals – geriert zum bierernsten Dämonenhorror. Dafür geht Alvart allerdings Sam Raimis irrwitzige Überdrehtheit ab, die selbst dem PG-13-Horrorfilm „Drag Me to Hell“ (2009) noch einen eigenen Reiz verlieh. Wenn erst einmal die Fratze des Dämons das Kindergesicht verzerrt, dann ist dem Stoff endgültig die Ambivalenz ausgetrieben. Wie viel unheimlicher war da doch Narciso Ibáñez Serradors „¿Quién puede matar a un niño?“ („Ein Kind zu töten…“; 1976), in dem wir netten, lachenden Nachbarskindern begegneten, die einen Alten einfach totschlagen und ihn dann aufzurren, um ihn mit einer Sichel bewehrt als Piñata zu verwenden. Aber die wilden 70er Jahre sind lange schon vorbei.
Was der Handlung an Tiefgang abgeht, versucht das Sounddesign mit Krawall und Dauerberieselung zu übertünchen. Immer wieder werden unerwartete Geräusche als akustische Schockmomente eingesetzt: ein Hund, der überraschend bellt; eine Hand, die urplötzlich an eine Scheibe klopft; ein Wecker, der losrasselt. Ein, zwei, vielleicht auch ein drittes Mal funktioniert das. Aber wieder und wieder den gleichen Effekt einzusetzen, bewirkt Gewöhnung und schließlich Langeweile. Einmal wird das Surround-Sounddesign effektiv eingesetzt: in einer gelungenen Szene, wohl eine Reminiszenz an „Candyman“ („Candymans Fluch“; 1992; Bernard Rose) und „The Believers“ („Das Ritual“; 1987; John Schlesinger), wenn Hornissen wütend surrend quer durch den Kinoraum rauschen und nachdrücklich zur Intensität des Terrors auf der Leinwand beitragen. Grundsätzlich aber fällt auf, wie überladen der Soundtrack ist; fast ununterbrochen klimpert, raunt oder dröhnt es. Wie viel drohender wäre da wenigstens einmal eine unerwartete Abwesenheit von Geräuschen, Musik und Atmo gewesen, statt ein weiteres Mal eine dämonische Macht gegen Türen anrennen oder Schlösser zerdreschen zu lassen, dass es nur so rumpelt und scheppert. Stilistisch erinnert der Film dabei an eine moderate Version dessen, was David Bordwell als Stil einer „intensivierten Kontinuität“ beschrieben hat: nicht eigentlich eine Abweichung vom klassischen, kausal-narrativen Stil Hollywoods, aber doch eine auffällige Dominanz von Großaufnahmen (hier als Teleeinstellungen der Protagonisten vor unscharfem Hintergrund) und scheinbar unmotivierter Kranfahrten und Aufsichten. Oder wie Mike Figgis es formulierte: „If somebody goes for a piss these days […] it’s usually a crane shot.“
Völlig verschenkt ist auch „Case 39“ nicht. Bogdanskis Kameraarbeit hat ihren Reiz, und letztlich ist der Film durchaus kurzweilig. Nur etwas Neues bekommt man nicht geboten. Aber vielleicht tut man Alvart auch unrecht, denn einige abrupte Momente lassen eine nicht ganz glückliche Produktionsgeschichte dieses Films vermuten, dessen Dreharbeiten bereits 2006 begonnen wurden. Warten wir einmal ab, denn mit „Pandorum“ hat Alvart bereits sein nächstes Projekt abgeschlossen.
Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Splatting Image, Nr. 79, September 2009