Als 1999 auf den Filmfestspielen von Cannes die Filme Rosetta' von Jean-Pierre und Luc Dardenne und Bruno Dumonts Humanité' die Hauptpreise abräumten, warfen erboste Kritiker der Jury um David Cronenberg angesichts der formalen und sozialen Tristesse beider Filme lautstark 'Publikumsfeindlichkeit' vor. Lange Plansequenzen, wortkarge Protagonisten, die beim verzweifelten Marschieren entlang der gesellschaftlichen Peripherie meist aus der Rückansicht gefilmt wurden, der Verzicht auf dramatischen Musikeinsatz und ein schmuckloser, fast dokumentarischer Gestus in den Alltagsbeobachtungen waren damals noch völlig ungewohnt für ein cinephiles Festivalpublikum, das sich mehr mit dem wohlfeilen, bürgerlichen Kunstkino eines Manoel de Oliveira oder eines Pedro Almodóvar, die im selben Jahr ebenfalls ausgezeichnet wurden, identifizieren konnte.
Knapp 15 Jahre später sind die filmischen Mittel, die an 'Rosetta' und 'Humanité' so vehement moniert wurden, selbst zu einem Klischee des internationalen Festivalkinobetriebs geworden. Diese Form von Cine-Miserabilismus hat inzwischen sogar ein eigenständiges Marktsegment geschaffen, das unter völlig verkehrten ökonomischen Voraussetzungen die Idee des 'Dritten Kinos' aus den sechziger Jahren wiederbelebt. Produziert werden die Filme aus den Philippinen, Saudi-Arabien oder dem Tschad heute kaum noch in den Heimatländern der Regisseure, sondern von Europa aus: für einen sich rasant ausdifferenzierenden Weltkinomarkt.
Auch 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' des bosnischen Regisseurs Danis Tanovic fällt in diese Kategorie. Tanovic reaktiviert alle Klischees des globalen Elendskinos. Auf der diesjährigen Berlinale wurden daher ganz folgerichtig seine beiden Hauptdarsteller Nazif Mujic und Senada Alimanovic für ihren selbstlosen Einsatz ausgezeichnet. Tanovic’ Film fährt allerdings eine Doppelstrategie, denn er bedient sich einerseits der dokumentarischen Manierismen des kritischen World Cinema, bricht diese Inszenierung aber mit einem Kunstgriff. Nazif und Senada, wie auch ihre Kinder Sandra und Semsa, spielen sich selbst. Vielmehr spielen die vier ihre eigene Geschichte nach, auf die Tanovic vor einigen Jahren in der Zeitung gestoßen ist. Nazif und Senada, die mit ihren Töchtern in dem Roma-Dorf Poljice leben, machten damals Schlagzeilen, weil das Ehepaar die nötige Geldsumme für eine lebensrettende Operation nicht aufbringen konnte. Senadas ungeborenes Baby ist gestorben, es musste schnellstmöglich aus ihrer Gebärmutter entfernt werden. 980 bosnische Marka sollte die Operation kosten. Kein Arzt ließ sich erweichen, sie umsonst durchzuführen. Die Medien berichteten über den Fall als Beispiel für den grassierenden Rassismus gegenüber ethnischen Minderheiten in den ehemals jugoslawischen Teilstaaten.
Tanovic, der 2001 mit seinem Debütfilm No Man’s Land' den Oscar gewonnen hat, inszeniert diese Human-Interest-Geschichte jetzt als sprödes Dokudrama mit dem Pathos eines kritischen Prekarismus, wie ihn etwa das Neue Rumänische Kino in den vergangenen Jahren bereits erfolgreich in der Formensprache des europäischen Arthaus-Kinos etabliert hat. Dass der Regisseur für 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' auf das populäre, aus dem Trash-TV bekannte Scripted-Reality-Format zurückgreift, entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie. Tanovic leitet aus diesem Besetzungscoup (bis auf die Ärzte spielen alle Protagonisten sich selbst) jedoch weder weiterführende Erkenntnisse ab, noch erkennt er in dem Vorfall eine politische Dimension. Die Unterordnung der Form unter die Geschichte stellt zunächst – ähnlich dem ungarischen Roma-Drama 'Just the Wind', das im Juli in den deutschen Kinos zu sehen war – lediglich eine Intensität her. Tanovic geht es in erster Linie um die (Nach-)Empfindung eines menschlichen Schicksals in einem Unrechtssystem. Eine Diagnose, wie in den klügeren Filmen des rumänischen Kinos, bleibt aus.
Dafür zeigt Tanovic die physischen Beschwerden dieses Lebens um so eindringlicher. Zeit wird hier mit fortschreitender Spieldauer eine immer kritischere Ressource – obwohl 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' mit einer Länge von 75 Minuten relativ kurz ausfällt. Nazifs einzige Einnahmequelle ist der Metallschrott, der im Nirgendwo des verschneiten bosnischen Hinterlandes an jeder Straßenkreuzung herumzuliegen scheint. Zwei nahezu identische Szenen verleihen der Odyssee von Nazif und Senada – mal mit, mal ohne Kinder im Schlepptau – einen erzählerischen Rahmen: Nazif und sein Nachbar Kasim ('Bruder' nennen sich hier die Menschen in einer fast altmodisch solidarischen Geste) nehmen mit Hämmern und Äxten ein Auto auseinander, bis die Einzelteile in den Lieferwagen des Freundes passen. Der Lohn der Arbeit, als sie die Teile später beim Schrotthändler abgeben, ist allerdings ernüchternd. Früh ist also klar, dass für Nazif und Senada die finanziellen Mittel für ein menschenwürdiges Leben in weiter Ferne liegen. 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' verfällt über diese Erkenntnis in eine Art Schockstarre.
Die Konsequenz, mit der Tanovic seine Geschichte umsetzt, legt die Beschränkungen dieser Ästhetik dann auch schonungslos offen. Das Bekenntnis zum 'Reenactment' als wirkungsvollem Abbildungsmodus beschreibt eher die Ohnmacht der Regie gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen. Als letzte Möglichkeit der Anteilnahme wird dem Zuschauer ein Identifikationsangebot gemacht, dem er sich nicht entziehen kann. 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' ist zu spröde, als dass es zum Elendskitsch oder gar zu der Form von magischem Realismus taugt, mit dem der US-Independentfilm seit einiger Zeit seine gesellschaftlichen Bilanzen aufzuhübschen versucht.
Tanovic ist immer dann am besten, wenn er Bewegungen inszeniert, in deren Verschleppungen sich bereits die ganze Vergeblichkeit dieses Überlebenskampfes abzeichnet. Das sind dann meist kurze, sehr filmische Vignetten innerhalb eines ästhetischen Gesamtzusammenhangs, in dem sonst Gesten dominieren. 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' ist etwas zu nah an seinen Figuren dran, um eine Wirkung über die bloße Empörung hinaus zu entfalten. Das System kommt nur selten hinter dem Einzelschicksal zum Vorschein. Zu sehen sind stattdessen Menschen, die anderen Menschen das Leben zur Hölle machen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 10/2013