In 'Alphabet' ist alles eine Frage der Belehrung: Sie ist Thema und zugleich Praxis dieses Dokumentarfilms, der sich in seiner Kritik an Leistungsdruck im Schul(ungs)wesen um prägnante Bilder zur Bildung ebenso bemüht wie – siehe Titel – ums Ausbuchstabieren einer Lehre.
Gut ist 'Alphabet' dann, wenn der Film Leute, die sich als Betroffene mit Bildungsselektionsmechanismen herumschlagen, über sich erzählen lässt: Ein Dortmunder, der ohne Lehrstelle in einem Aufstockerjob als Security dahinwurstelt, ein Spanier, der erzählt, wie aufregend sein Bildungsleben als erster Universitätsabsolvent mit Down-Syndrom war (und auch, wie aufregend sein Leben als Fan des Fußballclubs von Malaga ist) – sie ermächtigen sich in manch Beharrungsposen und sarkastischen Selbstauskünften. Gut auch, wenn der österreichische Regisseur Erwin Wagenhofer, wie in seinen wirtschaftsentfesselungskritischen Dokus We Feed the World' (2006) und Let´s Make Money' (2008), Profitideologen und Leistungsroutinen so ins Bild setzt, dass Widersprüche hervortreten, dass ihre Rede und das Bild ihres Ablaufs sich gegen sie kehren: Der deutsche PISA-Test-Delegierte bewundert den Effizienzterror im Schulsystem Chinas, ein chinesischer Bub wird zum Gewinn von Mathematikturnier-Medaillen gedrillt, trägt dabei just eine an Rennfahrer erinnernde rote Jacke voller Logos und macht ein Gesicht zwischen Depressionsschub und Sekundenschlaf. Die Besten einer Jung-CEO-Auslese reden – etwa über Babypausen oder feindliche Übernahmen – so zynisch und menschenverachtend daher, wie das Kapital halt ist; die Art, wie die Inszenierung ihre Soundbites ausstellt, trägt allerdings ihrerseits Züge von Prägnanzprofitmaximierung.
Beim engkrawattigen Bildungsexperten mit Armeefrisur, der das Maskulinistisch-Kriegerische des Konkurrenzsystems anprangert und später 'wuchtig handelndes Zertrümmern' von Bildungstraditionen fordert, oder beim alten Kreativguru im 'Mal-Ort', dem heutige Kindermalereien nicht mehr freudvoll genug sind ('Das hat doch nichts Freudvolles! … Das Kind spielt einfach nicht!'), da fragt sich hingegen, ob Wagenhofer sie – mit ihren sich als emanzipatorisch gebenden Äußerungen, die aber doch einiges an Machtanmaßung verraten – aufs Glatteis führt, oder ob er nicht selbst mit ihnen ebendort tanzt. Wenn ein im Film als Positivbeispiel ins Treffen geführter junger Mann, von Beruf Gitarrenbauer, auf der Tonspur erzählt, seine Eltern wollten ihn nie in eine Schule schicken und seien dankenswerter Weise ihrer Entscheidung treu geblieben, während er im Bild dabei zu sehen ist, wie er als Sportbogenschütze einen Pfeil ins Ziel schnellen lässt, dann ist allerdings zu vermuten, dass solche audiovisuellen Formfindungen – Treue zur Entscheidung plus unbeirrbares Im-Auge-Behalten eines Ziels – als Bekräftigungen zu lesen sein sollen.
Wagenhofers Kino-Didaktik versprüht jedenfalls einiges an zutiefst intaktem Glauben an die Autorität wissender Lehrmeister: Der zumeist als auf Vortragsbühnen beim Predigen gezeigte Neurobiologe, der in einer Sequenz just an der einstigen DDR-Grenze sitzend über die uns Menschen ja schon vorgeburtlich aufgegebene Verbundenheit sinniert, ist ein Echo von Fritz Karls paternalistischer Belehrungspose in Dialogen von Wagenhofers vorigem Film, dem migrationsregime- und spekulationskritischen Roadmovie Black Brown White' (2011). Zugleich steht er, mit seiner Berufung aufs Schlechthin-Menschliche – seinen Bildungsdisziplin- und Auschwitz-Vergleich vergessen wir lieber – in einer den Film durchziehenden Motivkette zur (Gattungs- und Individual-)Evolution; das Filmintro etabliert diese Kette mit Montagen von Embryo, Wüste, dazu die Off-Stimme eines Kreativitätsexperten, der weit ausholt. Da weht ein Hauch von Kubricks 2001' durchs Bild und ein Nachhall des verhaltens- und gedächtnistheoretischen Intro zu Resnais‘ 'Mein Onkel aus Amerika' durch den Ton. Der da bei Wagenhofer spricht und uns ganz am Filmende zu mehr Beweglichkeit auffordert (als wäre er ein flexibilisierungswütiger Sprecher der Industriellenvereinigung), ist allerdings kein selbstironischer Resnais‘scher Bergsonianer, sondern Sir Ken Robinson, der, so lehrt uns der Abspann, für seine innovationswissenschaftlichen Verdienste von der Queen geadelt wurde. Na, dann! Dann muss seine Kritik ja wohl stichhaltig sein.
Männer wissen ziemlich viel in 'Alphabet' – allerdings nur sie. Die programmatisch zweimal, beide Male in der Nähe von Embryo- und Babybildern, eingesetzte markante Totale mit den in der Luft tanzenden chinesischen Papierdrachen, von denen es heißt, sie seien ein Sinnbild für kindliche Begabungen – vielleicht erinnert sie deshalb so sehr an das Gewurl von Spermien. Frauen kommen in dem Film jedenfalls kaum vor – es sei denn als beipflichtende Gattin des 'Mal-Ort'-Meisters, als Mathe-Medaillen-geile Omi des schläfrigen Rennfahrerbuben oder als Anschnitt von Mädchenstrumpfbeinen in pinken Rollerblades mit einem Müllhaufen im Hintergrund; letzteres Bild untermalt die Expertenrede vom schädlichen 'Strudel der Konkurrenz'.
'Alphabet' zeigt lieber Anlagen im Sinn von Begabungen als Anlagen im Sinn von Dispositiven und Maschinerien; bildungsinstitutionelle Raum- und Zeitregimes zu erkunden, das erspart der Film sich weitgehend zugunsten pathetischer Appelle an Autorität und Phantasie; als wären beides nicht Kräfte, mit denen das zwangsflexible Kreativkapital heute bestens auskommt und wirtschaftet.