Eine Frau entblößt ihren Oberkörper, kniet in Anbetung nieder vor einem Kruzifix und geißelt sich mit einer Peitsche. Sie versteht dies als Opfer zur Vergebung der Sünden, zu deren schändlichsten in ihren Augen die „sexuelle Besessenheit“ der Menschen zählt. „Sexuelle Verwilderung zerstört“, lautet einer der Sprüche an der Plakatwand ihres Schlafzimmers. Dieser korrespondiert wiederum mit einem schockierenden Erlebnis, das ihr widerfährt, als sie eines Abends auf ihrem Nachhauseweg durch einen Park Zeugin einer Orgie wird. Manchmal geht sie für ihr „tägliches Opfer“ auf Knien durch die Wohnung und trägt dabei einen Büßergürtel. Ihre Sommerferien nutzt die medizinisch-technische Angestellte, um in Wiener Problembezirken Einwanderer und sozial Schwache zu bekehren oder ihnen zum Schutz für eine gewisse Zeit eine sogenannte „Wandermuttergottes“ zu überlassen. Anna Maria (Maria Hofstätter) ist eine tiefreligiöse Katholikin, die sich zusammen mit ihren Glaubensbrüdern und –schwestern von der „Legio Herz Jesu“ als „Speerspitze des Glaubens“ und als „Sturmtruppe der Kirche“ versteht.
Ulrich Seidl zeigt in seinem Film „Paradies: Glaube“, dem zweiten Teil seiner Paradies-Trilogie, mit ebenso nüchternem wie genauem Blick diese radikale Glaubenspraxis als eine Art parallele Welt, die je nach Betrachterstandpunkt absurde, komische, ernste oder auch grausame Züge trägt. Mit seinem halbdokumentarischen Stil, der die schauspielerische Improvisation in authentischen Settings mit präzisen Bildkompositionen verbindet, thematisiert Seidl die existentiellen Widersprüche seiner Hauptfigur. So erscheint Annas sorgsam geregelter Alltag inmitten von Ordnung und Sauberkeit relativ freudlos. Gegenüber den emotionalen und sexuellen Bedürfnissen ihres querschnittsgelähmten Ehemannes Nabil (Nabil Saleh), der eines Tages unerwartet wieder bei ihr einzieht, zeigt sie sich kalt und hartherzig, während sie andererseits ein geradezu erotisches Verhältnis zu ihrem geliebten und verehrten Jesus-Bild unterhält.
„Die Erde ist schön, es liebt sie der Herr“, singt Anna und begleitet sich dazu auf ihrer Heimorgel. Wenn später, in einer der vielen intensiven Szenen des Films, der Versuch, eine Alkoholikerin zu bekehren, in wüsten Handgreiflichkeiten kulminiert, wird nicht nur dieser Satz, sondern auch Annas Tun ad absurdum geführt. Ihre Bemühungen und Opfer erscheinen mitunter nicht nur sinnlos, sondern auch fragwürdig. Besonders ihre glaubenskriegerischen Kämpfe mit ihrem moslemischen Ehemann, von Seidl mit verstörender Direktheit und teils schwer erträglicher, insistierender Deutlichkeit inszeniert, münden zunehmend in Intoleranz, offener Feindschaft und quälendem Hass. Für den Österreicher Ulrich Seidl, der in seinem Film „Paradies: Glaube“ eine schwierige ästhetische Gratwanderung zwischen einer teils brutal rückhaltlosen Darstellung und einem teils ausgestellt erscheinenden Elend unternimmt, ist dies die Kehrseite von einem ungestillten Bedürfnis nach Liebe und von unterdrückter Sexualität. Und er hält für diesen Mangel kaum Hoffnung bereit. Vielmehr endet sein Film mit dem Abspannlied im nihilistischen Zweifel, wenn es darin im Sinne der Vanitas um die „Nichtigkeit des Menschenlebens“ und die „Flüchtigkeit der Menschenschönheit“ geht.