Léa (Anne Azoulay) lebt mehrere Leben in verschiedenen Welten, die alle durch ein Band sozialer Abhängigkeiten miteinander verknüpft sind. In der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre versorgt sie ihre demenzkranke Großmutter (Ginette Garein), bei der sie auch wohnt, studiert tagsüber in der Bibliothek und arbeitet abends als Bedienung in einer Striptease-Bar. Dass sie die Tochter des örtlichen Bürgermeisters ist, der mittlerweile mit einer neuen Familie zusammenlebt, erfährt man eher nebenbei. Als sie einen Studienplatz für politische Wissenschaften in Paris erhält, verschärft sich die soziale Dialektik: Um ihren Unterhalt und die Pflegeheim-Unterbringung ihrer Oma zu finanzieren, beginnt sie als Striptease-Tänzerin zu arbeiten. Bruno Rollands starkes Langfilmdebüt „Léa“ ist für seine DVD-Veröffentlichung in Deutschland deshalb mit dem sowohl dümmlich klingenden wie irreführenden Untertitel „Die strippende Studentin“ versehen worden.
Tatsächlich ist sein differenzierter Film eine Auseinandersetzung mit dem marxistischen Diktum, wonach das soziale Sein das Bewusstsein bestimme. Zwar arbeitet Léa selbstdiszipliniert und streng, sozial isoliert und sich bis zur Erschöpfung selbst ausbeutend an der Widerlegung dieses Satzes, gerät dabei aber immer tiefer in eine sowohl psychische als auch existentielle Krise. „Ich bin ein unabhängiger Typ!“, sagt sie trotzig und gegen allen Stress und Ärger anfangs noch zu ihrem Spiegelbild, was durchaus auch als Suche nach einem eigenen Weg jenseits der traditionellen Rollenzuweisung zu verstehen ist. Leitmotivisch zieht sich dieses mit Zweifeln, Ungewissheiten und Ermutigungen verbundene Bild der Selbstprüfung durch den Film. Ergänzt und kontrastiert wird es von Léas einsamen Gängen durch leere nächtliche Straßen.
Doch dann lässt sich die kontrollierte Frau regelrecht fallen und gerät zunehmend in einen Sog der Selbstzerstörung. Léa schottet sich ab, verliert das Vertrauen zu Menschen, erträgt kaum noch Nähe – etwa die zärtliche Fürsorge des Barmanns Julien (Eric Elmosnino) – und zeigt Symptome körperlicher Erstarrung. Bruno Rollands elliptisch erzähltes Portrait einer jungen Frau auf der Suche nach einem Platz im Leben lässt dabei Praxis und Theorie, Uni-Vorlesung und Prostitution, vor allem aber Sein und Schein aufeinander prallen. Immer wieder inszeniert er Anne Azoulay, die übrigens am Drehbuch mitgearbeitet hat (und demnächst in Pierre Schoellers „L’Exercice de l’État“ zu sehen sein wird), wie auf einer Bühne in frontaler Sicht: ob beim Putzen in der großelterlichen Wohnung, bei der Aufnahmeprüfung im Hörsaal oder bei ihren aufreizenden Tänzen im Stripteaselokal. Stets ist Léa den Blicken ausgesetzt, weckt aber auch Phantasien und verkauft Träume; der Dealer existiere durch den Käufer wird in einer Vorlesung Bernard-Marie Koltès zitiert.
Doch Bruno Rolland will weder die Opfer-Rolle umkehren, noch geht es ihm um einfache Zuschreibungen oder die lineare Verkettung von Ursache und Wirkung. Sein komplexer Film beschreibt vielmehr die Wechselwirkungen von Licht und Schatten, Vorder- und Hintergrund. Und wenn am Ende seine unerlöste Heldin am Strand von Le Havre das Bild verlässt, während am Horizont ein Schiff in den Weiten des Meeres verschwindet, liegt in diesem Abschied trotz aller Offenheit auch die Hoffnung des Aufbruchs.