Ein nebliges, regenverhangenes Grau hängt über Lausanne und dem Genfer See und verschleiert mit seinem Dampf die jenseitigen, schneebedeckten Berge. In die fast farblose Welt der kalten, tristen Jahreszeit fällt nur selten wärmendes Licht. Mit subjektivem Blick und auf verschiedenen, parallel montierten Handlungswegen inszenieren die beiden westschweizer Filmemacherinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond in ihrem preisgekrönten Langfilmdebüt „Das kleine Zimmer“ ('La petite chambre') die familiären und sozialen Kontexte ihrer beiden ungleichen Protagonisten, die im Verlauf des nachdenklich stimmenden Films eine starke innere Verbindung zueinander entwickeln.
Rose (Florence Loiret Caille) hat nach einer längeren Auszeit wieder angefangen, als Hauspflegerin zu arbeiten. Doch der Grund für ihre Zwangspause wird nur schrittweise in subtilen Andeutungen vermittelt: Durch ihre übergroße Sensibilität und Verletzlichkeit, einen gewissen Rückzug ins Private und durch Eheprobleme, zu denen auch gehört, dass der Sex mit ihrem Mann Marc (Eric Caravaca) nicht mehr richtig funktioniert. Dabei rückt immer wieder das titelgebende, in Blau gestaltete und komplett eingerichtete Kinderzimmer ins symbolische Zentrum, das von Rose wie eine Art Heiligtum bewacht wird: „Das Zimmer darf nicht verändert werden.“ Erst später erfahren wir, dass Rose im achten Monat ihrer Schwangerschaft ein totes Kind geboren hat.
Dass sie sich in ihrem Schmerz ausgerechnet dem alten, ebenso verbitterten wie zynischen Grantler Edmond (Michel Bouquet) öffnet, hat entgegen dem ersten Anschein gute Gründe. Denn der menschenfeindliche, stets mürrische Pflanzen- und Musikliebhaber fühlt sich von seinem Sohn vernachlässigt und abgeschoben (was das Drehbuch mit leisem Humor zuspitzt und abmildert). Noch schwerer jedoch wiegt für den ehemaligen Hobby-Bergsteiger der Verlust seiner Selbständigkeit und Vitalität bei gleichzeitig zunehmender Gebrechlichkeit. Die unausgesprochenen Gedanken an den Tod und die Angst vor dem „Verpflanzt-Werden“ liegen als schwere Schatten über seinem Lebensabend.
Nur langsam öffnen sich die beiden Versehrten füreinander. Die traumatisierte, in ihrer Trauer gefangene Rose und der gebrechliche, einsame Edmond entwickeln dabei einen intensiven Kräfteaustausch. Indem sie sich gegenseitig umeinander kümmern und sorgen, setzen sie einen doppelten Heilungsprozess in Gang, der schließlich den Bann des „kleinen Zimmers“ bricht und neben der „Rückeroberung der Identität“ (Chuat/Reymond) zugleich Versöhnung ermöglicht. Die emotionale Wiederholung des Traumas öffnet Rose gewissermaßen neu dem Leben, während Edmond auf einer bewegenden Reise in die Erinnerung Abschied nimmt. Auf geheimnisvolle Weise berühren sich Anfang und Ende, Ende und Anfang in dem von Chuat und Reymond stringent und gefühlvoll erzählten Kreislauf des Lebens.