„So waren wir … zuerst im Namen Adolf Hitlers zugrunde und tagtäglich zu Tode erzogen worden und dann nach dem Krieg im Namen von Jesus Christus, und der Nationalsozialismus hatte die gleiche verheerende Wirkung auf alle diese jungen Menschen gehabt wie jetzt der Katholizismus“ – Thomas Bernhard
Die Drastik, in welcher Thomas Bernhard in seinem Buch „Die Ursache“ seine schrecklichen Kindheits- und Jugenderfahrungen in einem Salzburger Internat schilderte, fehlt dem Dokumentarfilm „Die Unwertigen“ zwar, dennoch belegen auch die Selbstzeugnisse seiner vier Protagonisten eine gewisse „pädagogische“ Kontinuität – vor und auch nach dem Ende des Nationalsozialismus, in deutschen Kinderheimen und in einem Jugendkonzentrationslager:
Richard Sucker verbringt ab dem 5. Lebensjahr, nachdem er als uneheliches Kind seiner Mutter weggenommen wurde, seine Kindheit mit Prügel und Zwangsarbeit in einem Waisenhaus in Breslau, und nach dem Krieg schließt sich für ihn die gleiche Praxis in deutschen Kinderheimen an. Elfriede Schreyer überlebt die Zeit der „wilden Euthanasie“ im hessischen Kalmenhof, einer Durchgangsstation für die Tötungsanstalt Hadamar, wo über 600 als „schwachsinnig“ eingestufte Kinder ihr Leben lassen mussten. Sie bleibt aber auch nach Ende des Krieges unhinterfragt bis 1970 im Heim eingesperrt. Waltraud Richards Mutter wird ins KZ verbracht, sie und ihre Geschwister werden in Heime gesteckt, obwohl ihre Tante sie adoptieren will. Günter Discher kommt auf Grund seiner Leidenschaft für die Swing-Musik als „entartet“ unter Hunger und Zwangsarbeit ins Jugend-KZ Moringen, dessen Existenz bis in die Sechziger Jahre hinein noch verleugnet wurde.
Die Eckdaten der hier behandelten vier Fallbeispiele zeigen, dass es der Regisseurin Renate Günther-Greene zunächst nicht um eine allgemeine Aufarbeitung des Themas geht, vielleicht auch nicht gehen kann, weil, wie es der Film immer wieder zeigt, die Vergangenheit der Praxis deutscher Kinderheime bis in die Gegenwart hinein gedeckelt und verschwiegen wurde, eine umfassende Dokumentation also skandalöserweise noch immer schwierig sein muss. Ihr Film konzentriert sich auf die individuellen Erinnerungen der vier inzwischen betagten ehemals „Unwertigen“, deren Erzählungen manchmal eindringlich sind, manchmal leider nur noch rudimentäre Eindrücke beinhalten. Aber es gibt auch kommentierte und informative Passagen, die den persönlichen Berichten nicht immer einen passenden Rahmen geben. So entstehen ungleiche Gewichtungen, ein unheitliches und unklares Gesamtbild, nicht zuletzt, weil Günther-Greene sich offenbar nicht entschließen kann, ob sie sich ganz auf ihre (sich mehrfach im Turnus abwechselnde) Zeugen verlassen soll oder ihnen durch Off-Kommentar eine informelle Struktur vorgeben, und zum anderen, weil ihre doch unterschiedlichen Geschichten jede für sich vielleicht schon tragend genug gewesen wäre, wäre es gelungen, zum grauenhaften Kern einer einzigen zu gelangen, eine einzige dieser Geschichten angemessen plastisch zu machen. Wo aber die persönliche Erinnerung Lücken aufwiese, hätte die Recherche einsetzen müssen. Je länger der Film dauert, desto mehr Fragen lässt er unbeantwortet, je mehr den vier alten Leuten ihr fragloses Leid anzusehen ist, desto mehr wünscht man sich genauer zu wissen, was ihnen geschehen ist. Allein die präzise Schilderung eines einzigen Tagesablaufs hätte vielleicht genügt.
Es bleibt, je nach Eloquenz der befragten Person, bei wenig bis mittelprägnanten Erinnerungs-Bildern; eine nachhaltig insistierende Befragung, wie sie von Claude Lanzmann in seinen Filmen beispielhaft praktiziert wird, fehlt. Oft hat man den Eindruck, die Regisseurin setze voraus, der Zuschauer wisse schon selbst, wie es gewesen sei. Unglücklich ist auch das thematische Nebeneinander und die daher implizite Gleichsetzung von Kinderheimen, Euthanasie-Praktiken und einem Jugend-KZ. Hier wird vieles in einen Topf geworfen, verrührt und verwässert, was je für sich seinen ganz eigenen bitteren Geschmack gehabt hätte. Auch das von Beginn an im Film apostrophierte Skandalon der nach dem Krieg unverändert fortgesetzten Misshandlung von Heimkindern, was schon einen eigenen Film verdient hätte, wird dann nur flüchtig und am Rande thematisiert.
Bliebe zu sagen, dass natürlich jeder Film, der wie „Die Unwertigen“ sich mit viel zu lange totgeschwiegenen Fakten der Nazi-Zeit befasst, ein wichtiger Film ist, und wenn auch hier nicht alles rund ist, hat natürlich jede persönliche Schilderung von Opfern dieser Zeit einen hohen Stellenwert, und die schaurigen Beschreibungen, wie 'unwerte Jugendliche' mit Medikamenten und Giftspritzen umgebracht wurden, wie auf die Fenster der Strafanstalt Fuhlsbüttel geschossen wurde, sobald jemand wagte heraus zu sehen, wie zynisch nach 1945 die Kirche sein konnte, indem sie einem Mädchen, dem im Krieg beide Eltern genommen wurden, den Konfirmationsspruch gibt: 'Deine Eltern haben dich verlassen, nur Jesus Christus wird dich nie verlassen', brennnen sich ins Gedächtnis ein. Auch deshalb ist „Die Unwertigen“ ein sehenswerter Film – von dem man sich mehr erhoffen konnte.