Claude Lanzmann ist heute, am 5. Juli 2018 mit 92 Jahren verstorben. Wir möchten den zahlreichen Nachrufen nicht noch einen weiteren hinzufügen, sondern mit diesem aus dem Archiv zusammengestellten Dossier an Lanzmanns monumentales Werk erinnern, das als die wahrscheinlich radikalste filmische Chronik der europäischen Moderne jede Zukunft überdauern wird. Adieu, Claude!
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Warum Israel (Frankreich/Italien 1973)
Anormalität der Normalität
von Sven Jachmann
In seinem Debüt von 1973 entfaltet Claude Lanzmann bereits sehr anschaulich all seine Inszenierungsmethoden, die sein späteres Mammutwerk „Shoah“ zu einem solch gewichtigen Klassiker des Dokumentarfilms avancieren lassen sollten: die Orte existieren, aber was sie von sozialer Realität künden, ist von den historischen Erfahrungen überformt und so zeigen auch ihre Bilder stets mehr als ihre bloße mediale Verdoppelung. Was in „Shoah“ die Spuren der Nicht-Erinnerung waren – beispielsweise eine beschauliche Waldwiese, unter deren Grün sich tausende Leichen eines Massengrabs befinden – ist in „Warum Israel“ die Frage nach der A-Normalität der Normalität.
Das Vorgehen gleicht dem in „Shoah“ frappierend: kein voiceover, (fast) kein Musikeinsatz aus dem offscreen, keine Archivaufnahmen, keine unmittelbar chronologische Ausrichtung. Stattdessen eröffnet das Sprechen der Protagonisten die Perspektive auf die Dialektik der Bilder. Und diese Dialektik wird beständig von Lanzmann selbst angekurbelt, wenn er sich immer wieder als Konstrukteur des Geschehens mitinszeniert, naiv nachfragt, den Verlauf der Erzählungen nicht nur lenkt, sondern gelegentlich in ihn hinein interveniert.
Bereits die Klammer des Films – in der Exposition trägt ein Sänger ein Spartakisten-Lied vor, mit dem der Film auch geschlossen wird, nachdem sich der Regisseur im Museum alle in Auschwitz Ermordeten mit dem Namen Lanzmann vorlesen lässt – verweist auf den Gründungsmythos Israels. Das europäische Leben, das Leben in der Diaspora, die unentwegte Erfahrung des Antisemitismus kulminierte in Auschwitz. Wie aber einen Staat begründen, der als Fluchtort für alle Juden gelten soll, gleichzeitig in seiner Verfasstheit als normaler Staat mit staatsspezifisch normalen organisationalen, politischen, sozialen und ökonomischen Problemen konfrontiert ist? Der nun über ein Territorium verfügt, aber weder einzig durch den Rekurs auf die Religiösität noch durch eine negative Identität durch die Erfahrung von Auschwitz sein Fortbestehen sichern kann? Lanzmann schildert nun, oftmals nicht ohne Witz, die Heterogenität dessen, was Leben in Israel bedeutet, wie erst aus der Differenz ein geschlossenes Bild ermittelbar wird: die Versprechungen der Jüdischen Agentur an die Immigranten auf Arbeit und Wohnraum, die bereits im Vorfeld nicht zu bewältigen sind; das zurückgezogene Leben in den Kibbuzen, an denen bereits ein deutliches Arm/ Reich-Gefälle ablesbar ist; die Schwierigkeiten, eine israelische Armee zu behaupten und den institutionalisierten Tod irgend zu legitimieren; die endlich erlangte jüdische Solidarität, die sich zugleich einem kulturalistischem Rassismus, vor allem gegenüber den osteuropäischen Juden, ausgesetzt sieht; die eben nicht selbstverständliche Selbstverständlichkeit jüdische Produkte im Supermarkt zu kaufen, die es bisher schlicht nicht gegeben hat.
Und dann zeitigen sich immer wieder die Bruchstellen, an denen die Normalität von der eingeschriebenen Historie überlagert wird. Ein jüdisches Gefängnis, in dem Juden sich hinter Gittern begegnen? Wie es sich anfühle, als Jude einen Juden zu verhaften, fragt Lanzmann eine sichtlich konsternierte Polizistin, die die Frage nicht versteht. Bisher habe sie noch keinen Araber verhaftet, lautet die Antwort. Ein anderer Polizist wird von einem aufgebrachten Passanten als Nazi beschimpft. Kurz darauf berichtet er davon, wie er von seinen Eltern in Auschwitz getrennt wurde. Das ist der rote Faden des Films: die Bruchstellen, an denen die Fragilität der Normalität immer wieder aufblitzt und ihre eigene Konstruktion kennzeichnet, weil sie nur behauptet, nicht aber widerspruchsfrei gelebt werden kann.
In diesem Sinne gleicht sich auch Lanzmanns Inszenierungsmethode dieser Konstruktionsleistung an. Im Booklet gibt er Auskunft darüber, wie sehr er das Primat der Objektivität des Dokumentarfilms gegenüber diesem roten Faden beugt: Die Supermarkt-Szene etwa berichtet von wenig unmittelbarer Authentizität: „Ich brachte sie in einen großen Supermarkt in Jerusalem, gab ihnen Anweisungen: „Los, seid erstaunt!“ Sie verstanden sofort, was ich sagen und tun wollte, sie fühlten und lebten es ja selbst und haben es folglich auch wunderbar gespielt.“ Lanzmann nutzt entsprechend gezielt die vorgefundenen Orte, arrangiert Irritationen, die die Situation zwar nicht im Augenblick hergeben, aber beständig mittransportieren. Ein Mittel, das er in ‚Shoah“, mit seinem Prinzip des erneuten Durchlebens, um so die Toten durch die Überlebenden sprechen zu lassen, perfektionieren wird. Er dekonstruiert den Mythos, indem er durch den Verweis auf dessen Flüchtigkeit hervorkehrt, was der Mythos eigentlich verdecken will.
Erst durch dieses Vorgehen wird „Warum Israel“ zur kritischen wie unumstößlichen Liebeserklärung. Frei von zeitgenössischen politischen Entwicklungen transportiert der Film einen Blick auf jüdische Identität, die die Erfahrung von Auschwitz abstreifen will und doch immer wieder auf sie zurückgeworfen wird. Allein aus diesem Grund brilliert er durch Zeitlosigkeit: Immerhin sind die Strukturen des sekundären Antisemitismus, etwa die Vergleiche des „israelischen“ Verhaltens mit dem der Nazis und die Einschätzung Israels als Besatzungsmacht, allgegenwärtig. Und schon die Tatsache, dass einstige Rezensionen den Film absichtlich mit einem Fragezeichen betitelten, ruft einen Eindruck von der Notwendigkeit dieses Dokuments hervor.
Warum Israel
(Pourquoi Israel, Frankreich/Italien 1973)
mit Gert Granach, Beno Grünbaum, Avraham Schenker, Ran Cohen u.a.
Länge: 192 Minuten
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Shoah (Frankreich/Polen 1985)
Spuren der Nicht-Erinnerung
von Sven Jachmann
Die deutsche Vergangenheitsbewäligung besitzt zahlreiche Kulminationspunkte, deren Kitt aus der Versöhnung des Unversöhnlichen seine bruchlose Konsistenz speist: sei es der Historikerstreit oder die Walser-Affäre, der Kniefall von Bitburg oder Möllemanns Israelattacken, „Hitler – Eine Karriere“ oder „Der Untergang“, der Kosovo-Krieg oder das Zentrum gegen Vertreibung, die Kultur Deutschlands hat in Bezug auf den Nationalsozialismus viele Exempel der Schuldfrage hervorgebracht, deren Grundlagen eigentlich einem einzigen Effekt dienen: die Differenz zwischen Tätern und Opfern einzuebnen. Unumstößliche Grenzen freilich, und Lanzmanns Film erhärtet ihre Säulen, indem er sich auf die Suche nach dem begibt, was ihre Chance und größte Gefahr zugleich darstellt: den Spuren der Vergangenheit im Gegenwärtigen.
Spuren finden sich überall: die saftig grünen Wiesen im anliegenden Wald von Chelmno, unter denen die Asche tausender ermordeter KZ-Insassen begraben liegt; der Rangierbahnhof Auschwitz, welcher nun und weiterhin für den geregelten Schienenverkehr genutzt wird; das unauffällige Schild am einstigen Zwischenbahnhof Treblinka, wo der polnische Lokführer mit der Geste des Halsabschneidens den Deportierten zeigte, dass sie hier nur noch den Tod zu erwarten haben; selbst im am LKW prangende Firmenschild Saurer auf der Autobahn in Duisburg ist die Mittäterschaft des Konzerns bei der Produktion und ihrer Optimierung der für die Endlösung benötigten Gaswagen eingeschrieben. Es sind Orte und Zeichen, die ihre Vergangenheit scheinbar mühelos abgetragen haben.
Die Arbitrarität von Signifikant und Signifikat wird hier, und vielleicht nur hier, zum grausamen Januskopf: Wenn Simon Srebnik, der als 13-Jähriger die Ermordung seiner Eltern miterlebte und als einziger das Lager Chelmno überlebte, gedankenverloren über die besagte Waldwiese wandelt, dann wissen wir, dass er buchstäblich das Grab seiner Eltern betritt. Wenn Abraham Bomba in einem Salon seine damalige Aufgabe als Friseur in Auschwitz beschreibt, dann wissen wir, dass das Aufbrechen der hierin eingeübten Monotonie in den schrecklichsten Augenblicken den unvermeidlichen Tod für wenige Minuten hinauszögern konnte. Dies ist Lanzmanns Methode der Spurensuche:
Bomba erzählt, wie er den Frauen unmittelbar vor ihrem Weg in die Gaskammern die Haare schnitt. Panikgefühle bei den Opfern hätten den Rythmus des Betriebs gestört, deswegen musste er sorgfältig, aber effizient vorgehen. Wer ordentlich zurecht gemacht wird, kann unmöglich anschließend getötet werden, so die Suggestion. Bis eines Tages eine gute Freundin und ihre Tochter vor ihm saßen. Nackt, ängstlich fragend, was denn nun mit ihnen geschehe. Eine Antwort konnte er ihnen nicht geben, der SS-Mann hinter ihm hätte keine Gnade gekannt. Zuvor hatte bereits ein anderer dieses Schweigegebot missachtet, als plötzlich seine Frau vor ihm saß. Sie wurden beide bei lebendigem Leibe ins Feuer der Krematorienöfen geworfen. Alles, was Bomba also blieb, war eine etwas größere Sorgfalt beim Frisieren. Eine Minute vielleicht, in der jede Sekunde die letzte Möglichkeit zum Widerstand für einen ehrenvollen Abschied bedeutete. An diesem Punkt bricht er in Tränen aus, will das Interview beenden. Lanzmann insistiert, er müsse sprechen, er müsse es einfach. Von der zuvor geradezu einstudiert wirkenden Rolle Bombas als nüchterner Erzähler, der mit kräftiger, selbstsicherer Stimme von den grauenvollsten Erlebnissen berichtet, ist nichts mehr übrig. An anderer Stelle sehen wir Simon Srebnik vor einer Kirche inmitten der polnischen Dorfbewohner, die sich noch zu gut an den jüdischen Jungen erinnern können, wenn er allmorgendlich den SS-Männern auf dem Boot ein preußisches Volkslied vorzutragen hatte. Was für eine schöne Stimme. Und immer trug er Fußketten. Ein lieber Junge, alle mochten ihn. Lanzmann fragt, ob man die Juden vermissen würde. Es geht nun allen gut, lautet die Antwort. Ob man hier in der Kirche die jüdischen Dorfbewohner zusammengerottet hätte. Ja, heißt es, alle hatten Taschen und Koffer dabei. Darin befand sich ihr letztes Hab und Gut. Töpfe mit doppeltem Boden, in denen sie ihr Gold versteckt hätten. Nach wenigen Minuten wird der Antisemitismus wieder manifest. Schließlich ergreift der Priester das Wort. Ein Rabbi hätte ihm gesagt, dass ihre Vernichtung die göttliche Strafe für die Juden sei. Sie haben Christus ermordet. Mit verschränkten Armen und um Haltung bemühter Miene ist Srebnik wieder der 13-jährige Junge, an dem sich ein weiteres Mal der Wille zur Auslöschung vollzieht. Er wird verbal vernichtet und niemand scheint es zu bemerken.
Szenen wie diese sind auch für den Zuschauer nur schwer zu ertragen, aber an ihnen verdichtet sich fast programmatisch das, was Lanzmann zu beabsichtigen sucht: Es gibt keine Musikuntermalung, auch keine Archivaufnahmen von aufgehäuften, toten Leibern. Die Menschen erzählen nicht von ihren Mühen und Strategien des Überlebens in der Todesmaschinerie. Stattdessen werden sie zur letzten Stimme der Toten und Lanzmann inszeniert seine Protagonisten nun so, dass sie für uns über die Konfrontation mit Orten und Handlungen qualvoll bezeichnen, was das ideengeschichtliche Programm Endlösung über die Vernichtung hinausgehend immer auch mitbedeutete: Spurentilgung.
Raul Hilberg erläutert, inwiefern die Nazis geringe Fantasie aufwenden mussten, um dieses Programm durchzuführen. Ghettoisierung, Enteignung, Zwangsassimilation besitzen eine tausendjährige Geschichte, aus deren Arsenal man sich leicht bedienen konnte. Das wirklich Neue offenbart sich in dem Ziel der totalen Auslöschung: Aus „Ihr sollt nicht als Juden unter uns leben“ wurde „Ihr sollt nicht unter uns leben“, bis es im Nationalsozialismus lautete: „Ihr sollt nicht leben“. Und dieses Novum implizierte organisatorische Fragen: Was sollte mit dem Besitz der Opfer getan werden, wie ließ sich ihre Vernichtung logistisch am effizientesten umsetzen, und wie konnte man es bewerkstelligen, dies alles unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der restlichen Welt zu vollziehen? Hierfür gab es keine Vorbilder. Es ist kein Zufall, dass bis heute kein Dokument ausfindig gemacht wurde, in dem explizit von der Auslöschung der Juden die Rede ist.
Das Projekt Spurentilgung setzt sich im Gegenwärtigen fort, an allen Orten, die ihrer grausigen Vorgeschichte bereits enthoben wurden, in aller Souveränität und Rationalität, mit der die Opfer versuchen, ihre Erlebnisse noch irgendwie lebbar zu verarbeiten. Lanzmann nimmt sich alle Zeit, die es braucht, um das Unsägliche in Worte zu fassen und in den minutenlangen Sprechpausen scheint immer wieder die Ahnung durch, dass keine Sprache dazu in der Lage ist, diese Aufgabe zu stemmen. Die Suche nach den Worten, ihre Intonation, das gestische Vortragen, die Abwesenheit der Bilder, die paradoxerweise erst durch Lanzmanns Bilder bewusst wird, all diese Elemente können nur Annährung an das sein, was nicht beleuchtet werden will, ob als zivilisatorisches Verbrechen oder traumatische Erfahrung. Jeder Versuch bleibt Platzhalter, aber gerade daraus bezieht die Kamera ihre schreckliche Wirkung, wenn sie etwa im Schritttempo aus der Subjektiven einen Waldweg abfährt und uns die Stimme auf der Tonspur mitteilt, dass die Gaswagen ein bestimmtes Tempo nicht überschreiten durften, um sicherzustellen, dass bei der Ankunft am Zielort Massengrab mit keinem Überleben der während der Fahrt vergasten Juden zu rechnen sei. Platzhalter ist auch die versteinerte Miene, das verlegene Lächeln der Protagonisten, deren Gesichter in Nahaufnahme das Bild füllen. Das Gesicht und das Wort legen pars pro toto Zeugnis von der Vernichtung ab, erlauben ein Gefühl für die Identität der entindividualisierten, gesichtslosen Opfer und sind doch zugleich von einer verwirrenden Abwesenheit bestimmt, dem Versuch, die Erfahrung zur Nicht-Erfahrung zu transformieren. So wie auch die abgefilmten Orte „Nicht-Orte der Erinnerung“ (Lanzmann) sind.
Die Sprache der Täter indes braucht kaum Bilder, um ihrer Verhärtung und immer noch präsenten Logik der Vernichtung überführt zu werden. Die meisten wollen anonym bleiben, die wenigsten gefilmt werden. Lanzmann stimmt zu, blendet anschließend die Namen ein, gelegentlich erfasst die Kamera auch ein Straßenschild. Die versteckte Kamera gewinnt einen schemenhaften Ausdruck ihres Antlitzes, fast so, als sei ihr Versuch der Spurenverwischung bereits erreicht. Keiner hatte etwas gewusst. Selbst der Assistent des Kommissars des Warschauer Ghettos besteht darauf, hunderter Toter täglich zum Trotz, für die Erhaltung des Ghettos zuständig gewesen zu sein. Der Mensch vergesse die guten Dinge nicht, die schlechten dafür umso schneller, versucht er sein lückenhaftes Gedächtnis zu erklären. Claude Lanzmanns Film zeigt eindrücklich, welche unterschiedlichen Motive für diese unterschiedlichen Verdrängungsleistungen vonnöten sind. Die Opfer müssen vergessen, der Täter will es bloß.
Shoah
(Shoah, Frankreich/Polen 1985)
mit Claude Lanzmann, Raul Hilberg, Rudolf Vrba, Filip Müller u.a.
Länge: 566 Min.
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Tsahal (Frankreich/Deutschland 1994)
Dialektik der Macht
von Sven Jachmann
Der Panzer als Leitmotiv: Er wird über Straßen und durch Wüsten manövriert, die Bilder zeigen seine Fabrikation, einem jungen Soldat ist er sein fünf Jahre bewohntes Zuhause und ein General, dessen Eltern vergast wurden, fühlte sich in ihm gar wiedergeboren. Das ist keine Landser-Romantik, die Maschine weder Popanz noch Stahl gewordene Allmachtsphantasie. Es ist die Geschichte von der Dialektik der Macht und der moralischen Ambivalenz, die ihre Institutionalisierung mit sich bringt, weil sie das Trauma Vernichtung mitdenken muss: die Geschichte der Tsahal, der Armee zur Verteidigung Israels.
Lanzmann setzt fort und spezifiziert, was in „Warum Israel“ universal behandelt wurde: Wo sind die Bruchstellen, wenn die Frage nach der Normalität nationaler und staatlicher Identität gleichzeitig immer eine nach der gelebten Anormalität ist, hieß es da. Konkret etwa: Wie kann ein Jude einen Juden verhaften? Und nun: Wie funktioniert und was impliziert die Wiederaneignung von Gewalt in einer Welt, in der einzig Staaten individuelle und kollektive Sicherheit bieten? Und was bedeutet das für einen Staat, dessen Bevölkerung den Versuch ihrer gesamten Auslöschung er- und überlebte und der sich mit dem ersten Tag seiner Gründung – ohne irgendeine institutionalisierte und tradierte Erfahrung im Umgang mit Gewalt – gegen seine Vernichtung zu wehren hat? Konkret also: Was unterscheidet diese Armee von allen anderen?
Es ist die Geschichte von einer wiedererlernten Wehrhaftigkeit, der Wiederaneignung des Muts – und der Angst um das Überleben. Defensivität und Angriff als widersprüchliche Doktrin werden von Lanzmann rückübersetzt als Erfahrung des Holocaust. Geschieht ein Angriff aus dem Hinterhalt, so lautet die Prämisse, sich sofort nach vorne auf die Gewehre zu stürzen. Das erhöhe zwar nicht die Überlebenschancen, sei aber ein anderer Tod, so General Vilnai. Das ist wohl die wichtigste Lehre: Die Passivität bedeutete den Weg in die Gaskammern. David Grossmann sagt irgendwann, der Grund dafür, dass Israel auf die Intifada völlig unvorbereitet war, sei der, dass man sich nie als Besatzungsmacht verstanden habe. Das ist der Grund, warum hier alle Worte und Gesichter vom Zweifel und nie vom Heroismus zeugen: Eine widerspruchsfreie Armee kann nicht existieren. Das ist zugleich die schmerzhafte Erkenntnis, die darum weiß, dass sie dieser Armee überhaupt ihre Existenz verdankt.
Tsahal
(Tsahal, Frankreich/Polen 1994)
mit Amoz Oz, Ariel Scharon, David Grossmann u.a.
Länge: 290 Minuten
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Sobibor – 14. Oktober 1943, 16 Uhr/ Ein Lebender geht vorbei (Frankreich/Deutschland 1997/2001)
Auschwitz ist jetzt
von Andreas Thomas
Es gibt zwar eine große Anzahl von Museen, Denk- und Mahnmalen. Die aber dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung. Sie verwalten die Erinnerung, die zur toten Materie wird. Meine Filme sind Gegenmittel dazu.‘ – Claude Lanzmann
Selten wohl hat ein Regisseur seine eigene Arbeit so treffend in Worte gefasst, selten aber auch lagen Intention, Werk und dessen Wirkung so dicht beieinander, wie im Fall der Dokumentarfilme Claude Lanzmanns. Sein monumentales Hauptwerk „Shoah“, ausschließlich aus Interviews von Überlebenden und Zeugen der Vernichtungslager, KZs oder Ghettos während der NS-Zeit bestehend, zeigte 1985, worum es Lanzmann ging: Um die Erinnerung durch Sprache, durch Erzählung, entgegen aller weithin bekannter Daten, Fakten, Bildern und entgegen einer „Ikonographie des Grauens“ (Seeßlen), die den Umgang mit dem Grauen dadurch zu erleichtern tendieren, indem sie es in einer Sammlung von Begrifflichkeiten, also als etwas medial und faktisch (Fotografiertes, Aktenkundiges, Registriertes) aber dadurch auch vermeintlich Begriffenes darstellen. Die Filme Lanzmanns suchen das Grauen und das Überleben des Grauens nicht in den Archiven und Museen, sondern in der Gegenwart von Orten und Personen. In den Kamerafahrten durch die grasüberwucherte Lade-Rampe von Auschwitz-Birkenau und in den Worten und Gesichtern der Menschen, für die das Grauen nach 1945 nicht nur noch ein Teil ihrer Vergangenheit war, sondern das sie bis zu ihrem Tode nicht loslassen wird.
Auf der anderen Seite gibt es die Gesichter und Berichte der Täter, Zuarbeiter und Dulder, derer, die auch nach 1945 nicht aufgehört haben, wegzusehen, zu verharmlosen, sich ihrer Mitverantwortung zu entziehen, das Grauen zu verdrängen. Dazwischen immer Claude Lanzmann, mit seinen bohrenden Fragen: „Wie war es genau? Was haben Sie gesehen? Was ist geschehen? Was haben Sie gefühlt, gedacht? Was haben Sie getan?“
In den intensivsten Momenten von „Shoah“ meint man, Lanzmann wünschte sich aus ganzer Kraft, dass alles ungeschehen gemacht würde, als sei eine Rettung der Opfer, eine Umkehrung der Ereignisse noch immer möglich, ganz so, als würde Auschwitz heute noch passieren. Und tatsächlich ist ja Auschwitz – und dessen Möglichkeit – nie abgeschlossen, solange seine Realität (das heißt auch seine Enstehungsbedingungen) nicht im Bewusstsein der folgenden Generationen angekommen ist. Lanzmann ist also nicht nur ein Erinnerer – aber vor allem ist er kein Förderer einer therapeutischen, einer zur Heilung führenden Trauerarbeit. Im Gegenteil: Er zeigt die Wunden und zeigt uns die Werkzeuge, mit denen sie jederzeit erneut gerissen werden können, die Ignoranz und die Flucht vor der persönlichen Verantwortung, nicht zu reden vom kranken, rassistischen Wahn.
Weil nun der Film „Shoah“ mit konsequentester Bereitschaft in den fürchterlichen Kern der Botschaft der Vernichtungslager hineinführen sollte, „die Radikalität des Todes, die Radikalität der Vernichtung, die Unentrinnbarkeit von alledem“, wie Lanzmann es nennt, hätten die Geschichten eines Aufstands, einer Flucht, oder des Entkommens einiger Weniger von dieser Wahrheit abgelenkt.
Aber es gab unter den 350 Stunden Film-Material, das sich bei den Dreharbeiten zu „Shoah“ angesammelt hatte, auch den Bericht des Yehuda Lerner von dem einzigen gelungenen jüdischen Aufstand, im Vernichtungslager Sobibor, und das Interview mit einem Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes Maurice Rossel, dem einzigen Außenstehenden, der offiziell das Konzentrationslager in Auschwitz-Birkenau besuchen konnte und das „Vorzeige-Ghetto“ Theresienstadt besichtigen durfte.
Aus diesen Interviews hat Lanzmann zwei eigenständige Filme gemacht: „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ und „Ein Lebender geht vorbei“. Eigenständige Filme, weil sie sich nicht problemlos in „Shoah“ integrieren ließen, aber gleichwohl als wichtige Ergänzungen zu verstehen waren („Nebenfluss“ von ‚Shoah’“ nennt Lanzmann seinen „Sobibor“-Film), als exemplarische Momente der von Lanzmann unermüdlich wiederholten Frage, was der Einzelne hätte tun können, hier also ob und wie Widerstand in den Lagern hätte möglich sein können oder ob die Weltöffentlichkeit schon früher von der deutschen Praxis der Vernichtungslager und Ghettos hätte wissen können.
„Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ liegt ein 1979 geführtes Interview mit Yehuda Lerner zugrunde, dem es schon vor seiner Internierung in Sobibor gelungen war, als damals sechzehnjähriger Junge aus acht verschiedenen Konzentrationslagern zu auszubrechen. Lerners Schilderungen werden mit in der Gegenwart gedrehten Bildern der Stationen auf der Odyssee seiner Deportationen erweitert, wieder ein Beispiel für die Kunst Lanzmanns, das Vergangene und doch nicht Abgeschlossene in der Gegenwart aufzusuchen. Die Erzählung dann vom Aufstand selbst ist von einer derartigen Präsenz, dass man meint, dessen unmittelbarer Zeuge zu sein.
„Ein Lebender geht vorbei“ zeigt ein Gespräch zwischen Lanzmann und dem Schweizer Maurice Rossel, welcher als einziger Delegierter des Internationalen Roten Kreuzes die Gelegenheit hatte, vom Lagerleiter in Auschwitz empfangen zu werden und Teile des KZs Auschwitz besichtigen zu können sowie Theresienstadt zu besuchen. Rossel, der Lanzmann ursprünglich nicht empfangen wollte, wurde mit der für Lanzmann charakteristischen und dem Sujet überaus angemessenen Art am Ende der Dreharbeiten zu „Shoah“ 1979 überraschend in seinem Haus aufgesucht und zu diesem Interview überredet, welches, wie man sieht, er unvorbereitet und widerwillig gibt. Rossel beschreibt, wie er ohne große Probleme und mit jugendlicher Unbefangenheit allein mit dem Auto nach Auschwitz gelangte und dort vom freundlichen Lagerkommandanten (dessen Name ihm entfallen ist) empfangen wurde, sogar eine kurze Besichtigung von Teilen des Konzentrationslagers unternehmen durfte („für den Krieg normale Verhältnisse“), und wie er Theresienstadt, „eine normale mittlere Kleinstadt“ (Rossel), besuchte. Dieser Besichtigung gingen tatsächlich wochenlange Vorbereitungen voraus, sie war eine groß angelegte Inszenierung (von einem „Potemkinschen Ghetto“ war später die Rede), von der sich Rossel in jeder Hinsicht täuschen ließ. Erschreckend an beiden Berichten ist, obwohl schlimm genug, weniger der Fakt der Täuschung, als Rossels bis 1979 ungeminderte Überzeugung, er hätte wirklich nichts bemerken können; vor allem aber seine offenbar fehlende nachträgliche Erschütterung darüber. Kein Anflug des Selbstzweifels scheint Rossel zu berühren, statt dessen spricht er in einer penetrant distanzierten Art stets von „Israeliten“, während Lanzmann, der Jude, stets von den „Juden“ spricht. Erst als Lanzmann ihn emphatisch und umfassend vor der laufenden Kamera mit den schrecklichen Daten und Zahlen dessen konfrontiert, was er hätte zumindest erahnen können, sehen wir einen anderen, nicht mehr selbstgefälligen Rossel, jemanden, der mit seiner eigenen Verantwortung konfrontiert wird.
Während „Shoah“ von der fürchterlichen Totalität der Todesmaschinerie der Nazis handelt, sind die Filme „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ und „Ein Lebender geht vorbei“ leidenschaftliche Dokumente der Möglichkeiten des Einschreitens, hier eines geglückten Widerstands und dort eines verantwortungslosen Wegsehens – da, wo eine internationale Öffentlichkeit hätte hergestellt werden können und müssen -, hier eine deklarierte Feier der Aufstands und dort eine vehemente Anklage, beides nachhaltige Appelle an die individuelle Verantwortlichkeit – am Ende auch die des Zuschauers.
Nachdem ich „Shoah“ zum ersten Mal in seiner ganzen Länge geschaut hatte, sah ich kurz darauf – noch ganz in dessen Hoffnungslosigkeit und ohnmächtiger Wut befangen – den Film „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ mit einem Gefühl veritabler Erleichterung und Genugtuung, mit einem Gefühl vollzogener Gerechtigkeit. Yehuda Lerner, der vorher nicht einer Fliege etwas zu Leide getan hatte, „empfand es als Ehre, den Schädel des Deutschen mit einer Axt in zwei Hälften zu spalten“. Den Filmen Claude Lanzmanns ist es zu verdanken, dass wir dieses Ehrgefühl verstehen können.
Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr
(Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures, Frankreich 2001)
mit Claude Lanzmann, Yehuda Lerner
Länge: 95 Minuten
Ein Lebender geht vorbei
(Un vivant qui passe, Frankreich/Deutschland 1997)
mit Maurice Rossel, Claude Lanzmann
Länge: 65 Minuten
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Der Karski-Bericht (Frankreich 2001)
Jenseits des Vorstellbaren
von Janis El-Bira
Zwei Tage lang hatte Claude Lanzmann den „Kurier“ des Warschauer Ghettos und Augenzeugen der Massenermordung der polnischen Juden, Jan Karski, 1978 in seinem Haus in Washington interviewt. Karski wurde zu einer der wichtigsten und ausführlichsten Stimmen in Lanzmanns einzigartiger „oral history“, die als „Shoah“ 1986 zu einem über neunstündigen Film wurde. Beinahe fünfzig Minuten lang erzählte Karski damals noch einmal seine Geschichte, die er seit seinem schon 1944 erschienenen Buch, „Story of a Secret State“, der „Nachwelt“, den Überlebenden und den Tätern immer wieder erzählt hatte: Von seiner Zeit in der polnischen Heimatarmee, seiner Funktion als Kurier zwischen dem polnischen Widerstand und der Exilregierung in London und davon, wie er ins Warschauer Ghetto und ins Konzentrationslager Izbica (das er wahrscheinlich irrtümlicherweise für Belzec hielt) eingeschleust wurde. Er berichtet von dem Grauen, das er sah, von der Bestialität jenseits des Denkbaren. Und Karski sah, um zu berichten. Er ist womöglich, ja wahrscheinlich sogar der einzige Mensch, der freiwillig in einem Konzentrationslager untertauchte, mit dem Vorsatz, der Welt Bericht zu erstatten, Zeugnis abzulegen. Jenes Zeugnis – an sich schon die Ausnahme, denn wer von der Shoah Zeugnis ablegen konnte und kann, der war und ist eine Ausnahme gegenüber der „Regel“ des Mordens und Sterbens – ist bei Karski nicht nur ein überaus ungewöhnliches, sondern zugleich ein tragisches.
Denn wo „Shoah“ seinen Bericht wiedergab, ist „Der Karski-Bericht“, ein Film über das Berichten selbst: Lanzmann hatte sich, das führt er in einem off-Kommentar zu Beginn des „Karski-Reports“ aus, beim Schnitt von „Shoah“ aus künstlerischen Gründen gegen die Verwendung der Materialien des zweiten Interviewtages entschieden, die Karskis Zusammentreffen mit den Führern der westlichen Welt, insbesondere mit Theodore Roosevelt, zum Gegenstand hatten. Insofern ist „Der Karski-Bericht“ eine Art ausführliche, nachträgliche Fußnote zu „Shoah“, bestehend aus den damals nicht verwendeten Passagen des Gesprächs. Karski erzählt hier, selten von Lanzmann durch Nachfragen unterbrochen, wie er darum rang, Roosevelt und dem Supreme Court-Richter Felix Frankfurter das Schicksal der polnischen Juden darlegen zu können. Wo Roosevelt Karski ausweichend antwortete und offenkundig lieber über Militärisches und Fragen der Reparationsleistungen an Polen sprechen wollte, gibt Frankfurter ihm eine deutliche Entgegnung: Er glaubt ihm nicht, ohne gleichzeitig behaupten zu wollen, Karski lüge. Er könne es sich nur nicht vorstellen; weder „Herz, noch Verstand“ würden es ihm erlauben, diesen Ausführungen Glauben zu schenken.
Es ist hier, dass dem „Der Karski-Bericht“ eine Bedeutung noch jenseits der Frage „Hätten die Juden gerettet werden können?“ zuwächst: Im Nicht-Glauben an den geschilderten Horror, gegen den sich alles in Felix Frankfurter gesträubt haben muss, findet die These vom Zivilisationsbruch bezeichnend Gestalt. Niemals zuvor war in diesem Maße die Vorstellung von dem einen Menschengeschlecht derart verstümmelt, ja vielleicht vernichtet worden. Als Film über ein im wahrsten Sinne „unglaubliches“ Zeugnis, das vielleicht angehört, aber nie ganz verstanden werden kann, ist „Der Karski-Bericht“ zugleich ein Spätwerk Claude Lanzmanns, das emblematisch und erschreckend zugleich auch für die Lebensleistung dieses Filmemachers stehen mag.
Der Karski-Bericht
(Le rapport Karski, Frankreich 2010)
mit Jan Karski, Claude Lanzmann
Länge: 48 Minuten
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Vier Schwestern (Frankreich 2017)
Vom Überleben inmitten des Todes
von Wolfgang Nierlin
„Paula Biren, Ruth Elias, Ada Lichtman und Hanna Marton: Ihre Gesichter, ihre Stimmen und ihre Geschichten haben mich nie verlassen“, sagt Claude Lanzmann. Der 92-jährige französische Dokumentarfilmregisseur, der Mitte der 1980er Jahre sein monumentales neuneinhalbstündiges Werk „Shoah“ veröffentliche, hat in seinem neuen, vier Teile umfassenden Film „Vier Schwestern“ nun Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden zusammengestellt. Ging es in „Shoah“ vor allem um „die Radikalität des Todes“ und die planmäßige Vernichtung der Juden, widmet sich „Vier Schwestern“ (275 Minuten) dem Glück und den Zufällen, den Widersprüchen und ambivalenten Gefühlen derjenigen, die dem Tod zwar entronnen waren, danach aber oft an Schuldgefühlen litten. Die ausführlichen, sehr konzentrierten Gespräche hat Lanzmann bereits während seiner mehrjährigen „Shoah“-Recherchen geführt, doch erst jetzt zu einem eigenständigen Werk montiert.
Was die vier aus osteuropäischen Ländern stammenden Jüdinnen trotz unterschiedlicher Temperamente und sozialer Hintergründe verbindet, ist ihr Mut inmitten der Verzweiflung und ihr Überlebenswille inmitten des Todes. „Im Elend handeln Menschen wie Tiere“, beschreibt Ruth Elias in „Der hippokratische Eid“ jenen elementaren Instinkt, der eine fast irrationale Hoffnung immer wieder neu gegen die erdrückende Erfahrung des Unglücks und die Willkür von Gewalt in Stellung bringt. In ihrer verzweigten Geschichte liegen diese gegensätzlichen Gefühle besonders nah zusammen. Aus dem tschechischen Ostrava stammend, wird die lebensfrohe Fabrikantentochter zunächst nach Theresienstadt, später nach Auschwitz deportiert, wo sie hochschwanger und unterernährt in die Hände des berüchtigten KZ-Artzes Josef Mengele gerät. Dieser zwingt sie zu einem grausamen Experiment, das in einer schrecklichen Tat mündet. „Stirbt deine Seele, stirbst du mit“, sagt Ruth Elias, die nach dem Krieg keine Familie mehr hat.
Etwas anders wirkt zunächst die Perspektive von Ada Lichtman im Film „Zum lustigen Floh“. Als nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen die jüdischen Männer ihres Heimatortes, darunter auch ihr Vater, zusammengetrieben und erschossen werden, ist sie überzeugt: „Der Tod war sicher, an ein Weiterleben war nicht zu denken.“ Im Vernichtungslager Sobibór wird sie später für Puppen, die zuvor jüdischen Kindern gehört haben, Kleider nähen, bevor das Spielzeug dann an deutsche Kinder weitergegeben wird. „Das ist unglaublich“, kommentiert Lanzmann, der sich zu den Interviewten immer wieder in Beziehung setzt. „Alles ist unglaublich: Das wir im Todeslager waren und so viel mitgemacht haben“, sagt daraufhin Ada Lichtman, der am Tag des Aufstands von Sobibór, dem Lanzmann bereits im Jahre 2001 einen Film gewidmet hat, die Flucht gelang.
Immer wieder kommen in den Filmen von „Vier Schwestern“ auch die Unschärfe der Erinnerung und die gleichzeitig sehr genaue Vergegenwärtigung des Ungeheuerlichen zur Sprache. Besonders in den Zeugnissen und Berichten von Paula Biren („Baluty“) und Hanna Marton („Arche Noah“) wird aber noch ein anderer gewichtiger Aspekt, von Lanzmann als „Schicksal der Frauen“ bezeichnet, thematisiert: die Schuldgefühle der Überlebenden. Während Paula Biren im Ghetto von Lodz als Mitarbeiterin der jüdischen Polizei eine Zeitlang gewisse Privilegien hat, kann Hanna Marton vor der Deportation ins Konzentrationslager durch ein Lösegeld freigekauft werden. Auch in ihren, eine bedrückend intime Innensicht vermittelnden Erzählungen geht es wiederholt um den schmalen Grat, der im extremen Ausnahmezustand durch Zufall und schiere Willkür das Leben vom Tod trennt. Dass die traumatisierten Opfer nach dem Krieg oftmals alleingelassen, ausgegrenzt und ignoriert wurden, gehört schließlich zu einem weiteren dunklen Kapitel dieser nicht vergehenden Geschichte.
Vier Schwestern
(Les quatre soeurs, Frankreich 2017)
Länge: 273 Minuten
Claude Lanzmanns gesamtes Werk ist auf DVD bei absolut Medien erhältlich.